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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1901)
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Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten, [12]: die Tradition
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0022

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ausdrückten, daß bei vorurteilslosem Betrachten ihr inneres Wesen sich
schnell dem Auge enthüllte. Man kam am Ende zu dem Schluß:
unsere ästhetische Kultur, soweit sic sich in den sichtbaren Zeug-
nissen unscrer baulichen Anlagen kundgibt, ist kopflos, wirr und ohne
Harmonic, und der Ausdruck ihres Aeußern ist gcmeiin

Wir habcn erkannt, daß diese Urtcile „schön" und „hüßlich", die
unser Auge fällt, so lange es nicht vcrkünstelt und verdorben ist, nichts
weiter bedeuten als „gut" und „schlecht", ästhetisch genommen,^ d. h.
aus der Erscheinung beurteilt. Und so stehen wir vor dcr Frage:
ist unsere Zeit nun mirklich so niedrig, wie diese ihre Werke es erzählen,
und mar die alte Zeit wirklich so außerordentlich vernünftig, harmonisch
und gut, wie es beim Betrachten ihrer hinterlassenen Werke scheincn
will, oder aber: „trügt der Schcin"?

Man kann die Schuld teilcn und die eine Hälfte rcichlich dem sittlichen
Charaktcr unserer Zeit aufbürdcn. Wenn auch dcr Gang der thatsüchlichen
Entwicklung späteren Jahren klarer und einfacher crscheincn wird, als uns
hcute aus der Nähe, so wird doch die Kultur, zumal der zweiten Hülfte
des ncunzehnten Jahrhunderts, recht wie ein brodelnder Hexenkessel aus-
sehen, in dem die treibenden Kräfte der Zukunft wirr durcheinander
kochen. Zur einen Hälfte reden also die Werke wahr, zur anderen
abcr, so wollen wir's hosfen, trügt in der That der Schein, und unscre
Zeit hat denn doch noch bessere Eigcnschastcn, als sie in ihrcn Gesichts-
zügcn verrät. Die Schuld aber dafür ist dem Spstem aufzubürden,
nach dem seit beinahe hundcrt Jahren der Baum der ästhetischen Kultur
des Sichtbarcn bci uns gepflegt wurdc, bis er dann nahe ans Ein-
gehen kam. Wic das gekommen, davon brauchen wir heute nicht wiedcr
zu sprechen, die Thatsache aber wissen wir alle: wir sind vom guten
Wegc ab und in den Graben gekommen, als wir die Tradition, die
Ueberlieferung, aufgaben.

Mit Bildern lüßt sich anschaulichcr crzählcn, als mit Worten.
Abb. s und 2 auf unsern Beilagcn zeigen zwei Bauernhöfe, dcr eine
im Jahre s?96, der andere syOO erbaut. Der erstere vertritt durchaus
den Tgpus des guten altcn Bauernhofes aus Mittcldcutschland, der
andere dns heimatlose Schcma, nach dem heute schier überall in deutschen
Landen gcbnut wird, das Schema, das nicht mehr Dorf- und doch nicht
Stadtgeprüge trägt und von zehntauscnd Reißbrettcrn her übers Land muchert.

Die Aufgabe allcr meincr vorausgehendcn Aussätze war, dcn umßänd-
lichcn aber überzeugenden Bewcis dafür zu führen, daß das häusig
gchörte Wort: ja, dns altc Haus sei ja malcrischcr, das neue abcr für
die Benutzung zwcckdienlicher — cine obcrslächliche Rcdensart ist und
nicht mehr. Auch an diescn beiden Beispiclen ließe diescr Beweis sich
durchführcn: nicht allein, daß das alte Haus als der Ausdruck eines
bchaglichcn, menschcnwürdigcn Daseins und das neuc als der eines
freudloscn höheren Zuchthäuslerdascins erscheint, sondern auch, daß die
alte Anlage in jeder Beziehung sachlichcr, praktischer, harmonischer und
fester ist als die neue. Wenn das Auge das alles mit dem ihm
eignenden Urteilc „schön" ziisammenfaßt, so kann der Verstand die
Ursachen dicser Schönheitsempfindung der Reihe nach zerlegcn in Mo-
mcute, dic nicht aus dem Wolkenkukukshcim irgcnd ciner Theorie stammen,
smidern praktisch - ethische Werte des Lcbcns bedeuten.

z. Gktobcrlicft zyoz
 
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