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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1901)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0050

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Wir rvollen es erwägcn.

Jch setze ans der palästinensischen
Literatur nach dem Gedüchtnis her:

Die Stadt auf dem Berge zusammen
gesehen mit dem Licht der Welt, die
Sonne über Gerechte und Ungerechte, die
Jünger vor Jerusalem: „Welche Steine
und melcher Bau!" Den Blitz, der
ausgeht vom Aufgang und scheinet
bis zum Niedcrgang. Uebcrhaupt die
Bilder vom Weltende mit dem Fallen
der Himmelslichter und dem Brausen
der Meerwogen. Die Natur am Kreu-
zigungstage. Dazu etwa aus dem
Judasbrief: die Wolken ohne Wasser,
von dem Winde umgetrieben, die wil-
den Wellen des Meeres, die ihre eigene
Schande ausschäumen, die irrenden
Sterne, behalten für das Dunkcl der
Finsternis in Ewigkeit. Oder das
Seufzen der Krsatur bei Paulus und
die wechselnde Klarheit der Himmels-
lichter. Oder gar die Naturbilder der
Offenbarung.

Und das in einseitig individua-
listischen Schriften, in denen es natur-
gemäß näher liegt, das^Einzelne zu
sehen.

Nun schlage man aber Hiob, die
Psalmen und auch die sPropheten^auf,
wo man will.

Man lesc ctwasaus dcm Schöpfungs-
licd: „Du. machest Finsternis, datz es
Nacht wird, da regen sich alle wildcn
Tiere; die jungenLöwen, die da brüllen
nach dem Raub, und ihre ISpeise
suchon vonjGott. Wcnu abcr dic
Sonne aufgehet, heben sie sich davon
und lcgeu sich in ihre Löcher. So
gehet dcnn der Mensch aus an seine
Arbeit und an sein Ackerwerk, bis an
den Abend." Odcr aus einem ge-
schichtlichen Lied, das den Auszug aus
Aegtzpten bcsingt: „Was war dir, du
Meer, daß du flohest? Und du Jordan,
daß du dich zurückwandtest? Jhr Berge,
daßihr hüpftet, wio die Lämmer? Jhr
Hügel, wie die jungen Schafe? Vor deu
Herrn bcbete dic Erde ..." Oder aus
dem Jesajabuch: „Denn siche, Finster-

nis bedeckt das Erdreich, und Dunkel
die Völker; aber über dir gehet auf der
Herr." Oder im Hesekiel die Stelle
vom Totenfeld und den vier Winden.
Aber wo soll man da anfangen und
aufhören: es ist doch geradezu die
schriftstellerische Besonderheit dieser
Dichtung, daß sie den Menschen und
sein Schicksal immerfort dem unge-
heuren Natur- und Weltganzen gegen-
übcrstellt und mit ihm zusammensieht.

Jst also in dem Naumannschen Satz
von der Lilie und den Sonnenlichtern
der Gegensatz von Einzelsehen und
von Zusammenseheu gemeint, so
möchte ich auf Grund des Thatbe-
standes bezweifeln, ob unser land-
schaftliches Sehen auch nur diese
Energie des Zusammensehens, des
Große-Massen-Sehens behalten hat,
die in der alten Literatur Palästinas
sich osfcnbart.

Und ich möchte schließlich sogar
sragen, ob — wenn jener Gegensatz
beabsichtigt war — man nicht billig
umgekehrt fragen mützte: Weshalb
spricht Jesus nicht einfach von den
Lilien, von den Vögeln? was treibt
ihn zu sagen: Schauet die Lilien
auf dem Felde, sehet die Vögel
unter dem Himmel? Nicht
vielleicht gerade, daß er das Einzelne
nur in der großen Landschaft sieht?
Er braucht das ganze Feld für eine
Lilic, das ganze Himmclsgewölbe für
einen Vogel.

3. Jch schrcibe dies nicht, um dic Bi-
bcl, dic ich liebe, zu cntschuldigen odcr zu
rühmcn; solltc sich herausstellen, daß
Jesus uud die Jüuger „nur religiös
und nicht ästhetisch" waren, würde
es mir garnichts ausmachen. Aber
wenn diese Frage im Zusammenhange
gerade mit dem Landschaftsehcn ge-
stellt wird, so wird man stutzig. Man
deukt bei ästhetischem Schauen immer
ohne Weiteres an Hellas. Jst denn
wohl gar dort die ästhetische Stcllung
zur Natur gcwachsen? und in Palä-
stina die rcin religiösc? Und die
Vktoberhest
 
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