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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1901)
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Platzhoff, Eduard: Zum Begriff des Genies
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0117

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Prozesses: des künstlerisch ausnehmenden Genießens (Gefi'chl), des
denkenden Durchdringens (Verstand), des prakrischen Wirkcns (Wille)
im gcnialcn Mcnschen. Eine solche Stufenfolge räumt natürlich dem-
jenigcn Gcnie dcn höchsten Nang cin, das die lctzte Höhe erklommen
hat, und somit läuft die ganze Genietheoric aus eine Verherrlichung
des handelnden Menschen hinaus. Der Verfasser sieht sehr wohl
ein, daß bei eincr solchcn Lösung dcs Problems ein Shakespere oder
Goethe zn knrz konrmcn mürden, und beeilt sich darum zu versichern, das
genialc Empfindcn allein — wic viclmehr das geniale Nachdenken! —
urache schon das vollkommene Genie aus. Damit ist freilich die kaum
festgestellte Thatsache nicht weggeleugnet, daß das geniale Handcln als
die letztc auch die höchste Stufe des dem Genie Erreichbaren bedeute.

Worin bcsteht nun dicse gefühls- und gcdankenmäßige Vertiefung,
die das Genie ausmacht, und aus dcr das geniale Handeln mit Not-
wendigkeit crfolgt? Sie bcsteht nach Türck in der Erfassung der letzten
geistigen Einheit alles Seicndcn, in dcr Auffindung seiner Gesetze und
Wechselbezichungen, in dcr Erkcnntnis sciner Jdee, seines Zwecks. Je all-
gemeiner und — kompliziertcr diese Jdee ist, desto vollkonrmener ist sie
uud desto vernünftigcr das mit ihrcr Hilfe gestaltete Wcrk. Der
Versuch abcr, überall das Allgcmcine zu sehen und zu suchcn, führt
uns ttber die Welt hinaus zu ihrcm Schöpfer. Jndem wir uns dabci
sclbst aufgeben, versinken wir in Gott, dcr Ouelle alles Seins, und
»verschmelzen mit Anderen zu cinem höhcren Ganzen in der Liebe."

Man sieht, hicr ist einc ganze Mctaphiisik nötig zur Entwickelung
dcs einzigen Genicbegriffs; Gott und Welt werden zu Zeugen angcrufcn —
und wir stehen schliehlich cntsctzt vor cinem aus lauter Jndividuum
mühsam und künstlich zusammcngeschweißtcn Koloß, dcn man nach
Belicbcn Allcinhcit odcr Pantheismus benennen kann. Aus diescm
»Urbrci", nach dem böshaftcn Ausdruck F. Th. Vischers, geht nicht
uur Alles hcrvor, in ihn mnß auch Alles wicder zurückkehren. Man
glaubt sich, um achtzig Jahrc zurückvcrsctzt, bci der Lektüre eines
Philosophen Hegelschcr Observanz; man merkt nur bald, daß die Kraft
zur Spckulation schon längst dahin ist und dic Nachahmungcn kränklichcr
Natur sind. „Modcrn" ist also Türck nicht, wcdcr im schlechtcn Sinne,
noch — leider! — im gutcn.

Dcnn was wir vor allem als modern bczeichnen, das ist doch
jener Subjektivismus (odcr Jndividualismus), der daran feslhält, daß in
jeder Mcnschcnscele cin Etwas nach Gcstaltung lcchzt, das nur sie gebes
kann und mit dcssen Ausbildung sic dcr Gcsamthcit am besten diencn
wird. Jener Subjcktivismus, dem cs zunächsl darauf ankommt, aun
jlch, freilich mit Hilfe dcr Gesamtheit, ctwas zu machen, was kcin
Anderer machen kann und was darum jcdcm Andcrn zu Gute kommt.
Fttr Tttrck ist Subjcktivismus ohnc Weiteres mil Egoismus glcich-
bedeutend. Wührend er den Vorgang der Objektivation, der Ent-
Persünlichung nicht anschaulich und vielseitig gcnug darstcllen kann,
hat er für dcn sogcnanntcn Subjektivismus immcr die glcichcn Wortc:
Bornicrtheit, Enge, gcwolltc Beschräukung, Stumpf- und Schwachsinn. —
3st die Aufgnbe des Jndividuums wirklich, die Natur zu spicgeln, so ist
bie Wclt Tttrcks noch langwciligcr als dic mathematische Welt Leibnitzens,
ui der doch jedc Monadc nur ein Stück des Ganzen und auf einc ihr

z. Novcmbcrkeft t9vt
 
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