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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1901)
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Weber, Leopold: Strenge Kritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0154

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Teil jenes Lebenswerks dar, das er im ,Feuer" ankündigt. Leonardo
entbrennt, da er den ftuchbeladenen Staub aus den von ihm entdccktcn
Gruben der Atriden einatmet, in geschlechtlicher Liebe zu seiner Schwester.
Die krankhaften Erregungen und Qualen, die er dabei auszustehen hat,
bilden, auf das ausführlichste behandclt, den wesentlichen Jnhalt des
Stückes, bis sich Leonardo entschließt, dcm entsetzlichen Zustande ein
Ende zu machen. Um seine Schwester nicht zu schänden, ertränkt er —
sich? Wie dürfte ein Genie gleich Leonardo an seine eigene Heiligkeit
Hand anzulegen wagen! Solch ein Gedanke ist dem Manne vom sieg-
reichen Selbstbewußtsein fern: er ermordet natürlich sie, ,um", wie er
sich mit zartem Mitgefühl ausdrückt, Zhre Seele vor dem Greuel zu
bewahren" —den er ihr zufügen wollte. Ja, emphatisch ruft cr cinmal
um's andere, von dem Heroismus seines cigenen Handelns hingerisscn,
aus: ^Wer, wer würde das für sic gethan haben! . . . Ach, mer,
wer hätte das für sie gethan, was ich gethan habe!" Und D'Annunzio
verlangt allen Ernstes von uns, wir sollten in dieser That wahnsinniger
Selbstsucht etwas Vorbildliches, etmas wie ein Symbolum für die
Erlösung des Menschengeschlechts von einem Fluche sehn!

Wenn eine im Kern ungesunde, schwüle Natur über so üppige
Ausdrucksmittel verfügt, wie die D'Annunzios, so muß natürlich eine
große Kraft der Verführung von ihr ausgehn. Nun aber, da in diesem
letzten Werke seine fieberkranke Empfindungsweise aller Bande ledig sich
als offenbare, nur durch völlige Jchtrunkenheit erklürliche Narrhcit
demaskiert, steht doch wohl zu hoffen, daß jedem, der ttberhaupt noch
der Ueberlegung fähig ist, die Augen über das wahre Wesen des be-
wunderten Jtalieners allmählich aufgehen werden.

Allerdings, auch wir habcn Geister, die, wenn sic erst eininal über
das uns von der Konvention eingetrichterte ,Gut und Bvse" wcg-
gekommen sind, nun auch über ihr kleines Sclbst nicht hinauszuschauen
vermögen. Solche Köpfe befreien sich von frcmder, übcrkommener und
veräußerlichter Moral dann freilich nicht, um nach den Gesetzen des
eigenen Jnnern zu handeln, sondcrn sie mißvcrstehen zugleich die Klein-
lichkeit dieser ihrer Natur, die ihnen eine Konservicrung ihres Seins um
jeden Preis als erste und heiligste Pfticht vorschrcibt, so sehr, daß diese
arme Kleinlichkcit ihren Augen wie eine Ligentümlichkeit des Genies
aussieht. Solche Gernegroße allerdings dürften bei einiger Konseguenz
leicht auf die Gedankenpfade D'Annunzios gcraten. Darin liegt seine
Gemeingefährlichkeit. Lcopold wcber.

Kunstwart
 
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