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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 4 (2. Novemberheft 1901)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0165

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und zerstören sich gegenseitig, so daß man schließlich nur den Eindruck eines
aufgeregtcn Wollens erhält, dem das kräftige Ausreifen zu Früchten nicht
gogönnt ist. An das Vermögen, das innerlich Erblickre in der Phantasie als
ein wirkliches Erleben festzuhaltcn, bis es sich aus einem ^Einfall' zum dich-
terischen Gesicht vcrtieft und wcitet, fehlt cs bei Dehmel fast immer, ja, es
schcint ihm nicht einmal ganz klar zu sein, was es heißt, die Sprache nicht
rednerisch, sondern dichtcrisch, d. h. gestaltend zu gebrauchen. Wie könnte
sonst er, dcr auf das Finden sprachlicher Klangreize und auf das geistreiche
Zuspitzen deS Einzelnen oft allzuviel Gewicht legt, so leichtsinnig mit den
Ansch au u n g sw e rten dcr Worte umgehcn, daß er von der Mutter Kuß
sagt, er „winke"! Wie künnte er gcreimte Erklärungen für Dichtungen aus-
gebcn und z. B. von „dcr Schöpfung schöner Hüllc* in dürrer Vcrsprosa sagen,
daß sie ihres »Glückcs Fülle" erschließe „dem nur, dcssen eigne Art die Art
des Schöpfers ofsenbart" und dazu noch dies in rein begriffliche Form
gcfaßtc Resultat seines Nachdcnkens durch gcsperrte Schrift als besondcrs
wertvoll hervorhebenl Wie könnte er mitten in cine poetische Stimmung
die trostlos anschauungskahlen Worte ,Will ein Neues sich begebcn?"
hineinreimen I Gewiß, das alles sind Dinge, die nur dessen Genuß wesentlich
bchindern werdcn, dcr zwischen „Gestalten^ und „Reden"' unterscheiden kann.
Wir sind uns auch wohl bewußt, daß viele gerade das, was wir als eine
Untugend Dehmcls, des Dichters, empfinden: das Ueberwiegen des schwungvoll
Pathetischcn gegcnüber der reinen Darstellung, als einen Vorzug betrachten
wcrdcn, mag dies Pathos zuweilen selbst in deutlichen Schillerrcminiszenzen
erklingen, wie in den Verscn:

„Muß denn diese Welt sich erst vernichten,

Um das Reich dcs Friedcns auszurichlen?

Freihcit, lebst du im Gcwissen blos?^

Dennoch licgt in dcm Gcsagtcn unscres Erachtens der stärkste Vorbehalt,
dcr gegen dic Ucberschätzung Dchmels scinen unbedingten Bewunderern gegcn-
über ausgesprochen werden muh.

Jn weiteren Kreiscn schon wird die ficberische Ucberschwänglichkeit dieses
Dichtcrs störcnd empfunden wcrdcn, scine Ncigung, an sich Geringfügiges
gewaltsam ins Ungcheucrste zu steigcrn, cin scclisches außer Rand und Band
Geratcn, das uns nicht aus drängcnder Lebensfülle, sondern aus nervöscr
Ucberreiztheit heraus zu erwachsen scheint. Ethisch und ästhetisch am un-
angcnehmstcn — krankhaft — berührt das Hineintragen von unmittelbar
sexucllen Gefühlen an Stellcn, wo sie nicht hingehörcn, in rein seelische Schilde-
rungcn, z. B. das Uebertragcn von dckadent geschlechtlichen Empfindungen auf
Personen wie Christus. Dcnnoch wird man bci dcr zwcifellosen künstlerischen
Aufrichtigkcit Dehmels in diescn Dingen von unsittlichen Absichtcn
unsercr festen Ucberzeugung nach nicht redcn dürscn. Im Gegenteil, was
wir an Dehmel vor dcn meistcn Talentcn, die man mit und ncben ihm
zu nennen pflegt, gcrade schätzen, das ist der größere Kunst- und Lebcns-
Ernst, dcn cr besitzt, das ehrliche Wollcn, wenn ihn auch die Uebcrreizthcit
scines Wcsens unsercs Erachtcns oft um die besten Früchte diescs Wollcns
bringt. So kann man mit dcr starken Bctonung, die Dehmel auf das un-
bedingte Ausleben dcs Pcrsönlichsten lcgt, da es allcs sei, was der Einzelne
der Welt zu bieten habe, durchauS einverstanden sein und doch an scinen
pathetischen Sclbstbcspicgclungcn und an dem Schwelgcn im Gefühl der eigencn

2. Novemberheft t90l
 
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