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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1901)
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Avenarius, Ferdinand: Literarische Ratgeber des Kunstwarts für 1902, [9]: Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0272

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mag. Es liegt eine gewisse Meisterschaft in diesem Stil, er spiegelt ein langeS
Wandern in vielen Gedanken wieder, eine seltsame Tiefe unter freundlicher
Oberfläche, selten aber: durchschlagenden Mut und ungekünstelte Ehrlichkeit.
Die Wahrheit, dah die menschlichen Dinge sehr verwickelt sind, giebt er im
Grunde gut, und so, datz die rechtwinklig zugeschnittenen Köpfe der gar zu flach
Veranlagten besser thäten, hier zu lernen, statt zu spottcn. Dennoch, Wahrheit
und Vorsicht — das ist eine zu unästhetische Verbrüderung. Es giebt da im
Durchschnitt wenig Erfreuliches. Um so Höheres kann gerade in diesem Felde
geleistet werden, wo ein durchschlagender Geist durch alle diese Windungen zur
Einfachheit drängt. Wo sollte sich Einfachheit erfreulicher, auch ästhetisch er-
freulichcr, aussprechen können, als da, wo sie Kraft braucht, um sich durchzu-
setzen, wie etwa bei Kicrkegaard oder Schrcmpf?

Aus einer Uebersicht über religiösc Litcratur ist vor allen Dingen er-
barmungslos auszuschlietzen die sogenannte »Christliche Literatur", und zwar
im Namen sowohl dcr Religion wie der Kunst. Nicht, datz wir auch nur cincn
Augenblick lang die leidcnschaftliche Aussprache religiöser Ueberzeugung, die
sinnende Gedankenbewegung religiöser Reflexion, den feiernden Jubel religiüser
Dankbarkeit als ästhetisch minderwertiges Material achteten. Diesen Gemüts-
bewegungen verdanken wir allererhabenste Denkmalc der Kunst, Hymnen,
Prophetenschelten, Grübeleien und Gesichte. Aber eben dieses ist nicht „christ-
liche Literatur", sondern einfach Literatur, Abteilung: Religiöses. Die „Christ-
liche Literatur" ist etwas ganz anderes, sie will „Unterhaltungsliteratur von
und für Christen" sein. Man kann nichts dagegen haben, wenn pädagogisch
veranlagte Gemüter unter der ehrlich zu stande gekommcnen vorhandencn Litc-
ratur dasjenige aussuchen und empfehlen, von dcm sie sich am mcisten erziehe-
rische Wirkung versprcchen. Abcr man denke sich Leute, die sich hinsetzen mit
der Absicht, eine chrisilichc Litcratur für das Volk zu schaffen, eine „wahrc"
Literatur, eine „gute gediegene geistige Nahrung", um den unchristlichen Romanen
und Novellen cntgegenzuwirken! Kcine innere Nötigung künstlcrischcr Art
treibt sic; sie schreiben aus Erbarmen mit dcm „armen Volke", und wozu bci
anderen Sterblichen gutc Veranlagung und schwcrc gcistige Arbeit gehört, das
kann ihrer Meinung nach ein guter Christ zwischen Frühstück und Mittag dcm
„lieben Volke" liefern. Mit Kunst hat ihre Arbeit von Hülle an bis Funke
und bis in die „Christoterpen" hinein nichts zu thun.

Schriftstellernde Pfarrer hat cs in jeder Zeit gegcbcn nnd wird es
gebcn, und es ist keine Ursache zum Mitztrauen gegcn die künstlerischcn Talcnte
geradc aus diescm Stande, dem Herder, in gcwisscr Weise auch Klopstock, dnnn
Hebel, Mörike, Jeremias Gotthels angehörten. Abcr sie stehen untcr demselbcn
Kunsturteil, wie die schriftstellcrndcn Juristcn und die Schriftstcllcr übcrhaupt.
Solange wir nicht zugeben, datz unsere Medizincr berufen sind, dcn Dichtcrn
Vorbilder einer gesunden Literatur zu geben, oder unsrc Juristcn, zn zeigen,
was gerechte Geschichten sind, oder unsere Naturforschcr, eine natürliche
Dichtung vorzudichtcn, solange werden wir zu dem intciisivsten Mitztrancn ver-
pflichtet sein einer Schriftstellcrei gcgcnüber, die davon ausgcht, der Thcologe
sei berufcn, erst einmal christliche Literatur an Stelle dcr unchristlichcn zn
schaffen. Und jedenfalls kann es keinc bcsondcrc Rubrik dafür geben.

Bleibt religiose und rcligionswisscnschaftliche Litcratur. Wir wollen
mit einer Warnung vor Kompcndien beginncn. Wcr im Jnteresse ästhc-
tischer Kultur — und nur ein solches Jnteressc habcn wir hier zu bcraten
— sich in eine Wissenschaft vertieft, kann sich nicht heilloser gleich zu Anfang
aufs Trockene setzen, als wenn er sich auf Kompendien einlützt; cr mützte
denn von Natur ein merkwürdig trockener Geist sein. Es handelt sich
für uns nicht um die „Ergcbnisse" der theologischen oder religiöscn Arbeit,
sondern um sie selbst; um dic Mcthodcn, mit welchen in dcr theologischen wie
in jedcr Wissenschaft Geschehenes festgestcllt und geordnct wird, vor allein abcr
nm die Fähigkeit, das Eigentüniliche dieses geistigcn Gcbietcs sicher aufzu-
fasscn, die religiöse Urteilsweise klar zu unterscheiden von jcder andercn Art
das Leben zu sehcn und zu dcuten, z. B. der sittlichen, dcr ästhetischen, dcr
naturgesctzlichen.

Es sind denn auch die für uns wertvollen Werke hier wie auf den an-
dcren Gebieten solche, die ein bestimmtcs Problem mit Energie und allerdings
auch weitem Blick anfassen und durchführen. Jst das Problein derart, datz zu

Kuiistwart
 
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