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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1902)
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Bonus, Arthur: Tendenz in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0492

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Kleidern von Bozra? .... Warum ist denn dein Gewand so rotfarb,
und dein Kleid wie eines Kelterträgers?" Jst diese Rede kein Kunst-
werk? „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Nechten vcr-
gessen, meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo
ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste
Freude sein.." Hat der Sänger diese Worte gedichtet ohne den
Zweck, Vaterlandsliebe zu erwecken? Jst dieses Lied kein Kunstwerk?
Hat Jesus das Gleichnis vom verlorencn Sohne erzählt ohne den Ziveck,
„religiöse Empfindungen" zu erwecken? Jst das Gleichnis kein Kunst-
werk? Wie steht es mit dem Zweck der Augustinschcn Konfessioncn?
Mit Luthers Schlachtgesang von der festen Burg? Mit den Dickcnsschcn
Satiren? Den Jeremias Gotthelfschen Geschichten? Mit Tolstojs Kreuher-
sonate? Mit Kierkegaards Schriften? Mit der Jbsenschen Dichtung?

Jn einer sogenannten „praktischen" Kritik war vor einigen Jahren
die Entdeckung von der kunsttötenden Wirkung der Tendenz folgender-
maßen praktisch benutzt: Hauptmanns „Weber" scien offenbar tendenziüs;
also kämen sie für wahre Kunst nicht in Betracht, seicn übrigens —
langweilig. Hat sich der Kritiker mit diesen Folgerungen blamiert, so
ist wenigstens der Satz von der kunsttötenden Wirkung der Tendenz
mit blamiert, denn die Weber sind gewiß tendenziös.

Multatuli schreibt gegen den Schluß scines Lebcns- und Anklage-
romans Max Havelaar: ^Ja, ich werde gelesen werdcn! Wcnn dicses
Ziel erreicht ist, bin ich zufricden. Denn es war mir nicht darum zu
thun, daß ich gut schriebe — ich wollte so schreiben, daß es gehört
würde. Und gcradeso wie einer, der ruft: »Halt' den Dieb!« sich
wenig um den improvisierten Zuruf an das Publikum kümmert, ebenso
gleichgülüg ist es auch mir, wie man Art und Weise beurteilcn wird,
wie ich mein »Halt' den Dieb!« hinausschreie. »Das Buch ist bunt —

— cs ist kein Ebenmaß darin-Jagd nach Effckt — — der Stil

ist schlecht — — der Autor ist ungeschickt — — kein Talent — -
keine Methode — —« gut, gut, alles gut! Aber: Der Javane wird
mißhandelt!" (Aus Spohrs Multatuli S. 58.)

Und wenn man dagcgen nun solche Sachen anführt, wie dic
Lauffschen Dramcn oder gewisse auf Lüsternheit oder Neugicrde spckulierende
Sensationsromane oder christlichc Bekchrungsgeschichten, — ja, glaubt
man denn im Ernst, daß die betreffenden Verfasser, wcnn sie tendcnzlos
schrieben, Besseres leisten würden?

Aber sie würden garnicht schrciben und dadurch die Kunst mehr
fördern als durch ihr Schreiben.

Das gebe ich zu. Nur würden die von mir aufgeftthrten Tendenz-
werke — und ich bin großmütig in ihrer Aufzählung gewcscn — glcichfalls
ungeschrieben geblieben sein; und das würde dcr 5kunst noch mehr ge-
schadet haben, ja, im Hinblick auf die Entstehung der Kunst kann man
vielleicht sagen: wir hätten ohne Tendenzkunst gar keinc Kunst.

Am liebsten möchte ich die Frage aufwerfen, ob und in welchem
Sinne es überhaupt tendenzlose Kunst gibt und gcben kann, da doch die
Kunst ganze Mcnschen fordcrt, und ganze Menschen nicht tendcnzlos sind.

Jst nicht in vielen Fällen das eigcntliche Motiv der Tendenz-
gegner beinahe cntgegengesetzt dcm Motiv, das sie selbst zu haben
mcinen? Wo eine Tcndenz die Secle des Dichtcrs sv crfaßt, daß seine
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