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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1902)
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Bonus, Arthur: Tendenz in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0494

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ehrlich auf dem Herzen hast, sein oder grob, gewandt oder eckig, wihlos
oder witzig, kunstlos odcr künstlerisch, und vertraue darauf: Erst kommt
das Leben und dann der Kritiker.

Jch kehre zu den Sätzen Karl Otto Erdmanns* zurück, auf die
ich im Anfang Bezug nahm. Jch glaube, daß er richtige Beobachtungcn
unvorsichtig wiedergegeben und dann auch unrichtig gcdeutct hat.

Ein jedes Kunstwcrk muß die Fähigkcit habcn, in dcn Lescrn oder
Betrachtern eine gewisse Jllusion zu erzeugen und innerhalb dieser Jllusion
sich auszuwirken, sodaß die Erwcckung von über die Jllusion hiiraus-
gehenden realen Gefühlen zu seiner Wirkung nicht uütig ist.

Das ist eine richtige Beobachtung. Jn ihr ist auch thatsüchlich
das ausschlaggebende Kriterium genannt, um Tcndcnzwerke in künstlerisch
wertvolle und künstlerisch wertlose zn unterscheidcn.

Ein Kriegslicd, ein Vaterlandslied, ein religiöses Lied, ein Fest-
spiel kann in der Situation, für die es gedichtet wurde, hinreißcnd
packend sein, ohne doch eine Spur von üsthetischem Wert zu habcn.
Die reale Wirkung in der Situation ist von Jmponderabilien, von
höchst zufälligen Anklängen abhängig. Und das Stück kann außcrhalb
der Situation, in der es wirken sollte und wirkt, ganz wirkungslos
bleiben. Wiederum kann ein anderes Licd, das genau ebenso auf reale
Gefühle abzielte, zugleich ein Kunstwerk sein, weil es auch ganz unab-
hängig von der Gelegenheit die Jllusion wachrufcn und in ihr sich aus-
wirken kann. Theodor Körners Kriegslieder werden ivesentlich durch dic
Begeisterungskrast scines Schicksals, nicht durch sich selbst gehalten. Ernst
Moritz Arndts Kriegslieder gehören der Kunst an. Aber Tcndcnzlicder waren
diese wie jene. Und ich glaube, daß Arndt über die Wirkung seincr
Lieder ähnlich empfand, wie es Spohr von Multatuli erzählt: cr sei
jedesmal, wenn jemand die Kunst seiner Bücher gelobt habc, in Ver-
suchung gewesen, ihn zur Thttrc hinaus zu werfen.

Jch schließe: ob das Wcrk eines Künstlers die Tendenz auf reale
Gefühle hat oder nicht, geht den Kritiker übcrhaupt garnichts an,
geschweige, daß er davon sein Urteil abhängig machen darf.

Aber ich glaube nicht, mit diesen Ausführungen das Problem
von dcr Tendenz in der Kunst gelöst zu haben. Jch wollte nur dcm
Aberglaubcn wehren, als sei es gelöst und als bewegten sich dic vielen
Zornesausbrüche über Tcndenziösität im allgcmcinen und Anklagcn auf
Tendcnziösität cinzclner Tichtungen auf irgend cincm klarcn üsthctischcn
Rechtsbodcn. Sie sind zum großcn Teile wcitcr nichts, als Eingc-
ständnisse eigener Tendenziösität des bctreffenden Kritikers. Es ist so
bequem für einen Kritiker, der eine eigene Tendenz durch den Dichter
angegriffen fühlt, diesen Angriff aus rein formellem Wege zu erledigcn:
du bist tendcnziös. Jch fühl's am Schmerz dcr eigcncn Tendenz.
Also bist du kcin Dichter. — Erlaube mal: Also bist du kein Kritiker.
Denn als solcher hast du mit dem Nachweis einer Tcndcnz doch höchstens
eine Vorfrage erledigt und die eigentliche Frage koinnit noch: Jst der
Dichter seiner Tendenz mächtig gewordcn? rZonus.

* Jn dem leseiiswertcn Buch »Alltäglichcs und Ncues". Gcsamuicltc
Effays. Leipzig, Dicderichs I8y8. S. esy.

Kunstwart
 
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