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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 10 (2. Februarheft 1902)
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Göhler, Georg: Die Musikgeschichte und Lamprechts Geschichtstheorie, [1]: allgemeines. Die ältere Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0501

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serner der Satz: „So war denn in dieser Zeit Musiker, wer ein feiner
Bercchner der kontrapunktischen Tonbewegungen war und gleichsain
virtuose Tänze von Tönen zusammenzustellen verstand: und die musische
Kunst wctteiferte schlietzlich in geist- und seelenloser Künstlichkeit wenigstens
vorübergehend mit den innerlich vcrwandten Ausgängen dcr Scholastir
und der absterbenden Architcktur gotischen Stils." Jn diesem letzten
Satze sind dic Wortc »wenigstens vorübergchend" offenbar nachtrüglich
eingeschoben, vcrnichtcn aber damit die innere Logik des Ganzen, denn
ihnen steht ein „schlictzlich" gegenüber; was „schlietzlich" Endresultat
eincr langen Entwicklung ist, kann nicht glcichzcitig als vorübergehend
und unwescntlich hingestcllt werden.

Viclmehr bcdeutct diesc thatsächlich vorhandene „Künstlichkeit' die
Lehrzeit, inncrhalb deren die neuc Technik ausgebildct und angecignet
wird, um dann aber bald zum Ausdruck gcistiger Werte verwandt zu
werdcn. Wir haben da die durch alle Künste hindurchgehendc immer
wicderkehrcnde Ablösung ciner Periode, die die Technik vervollkommnet,
durch cinc andere, die dercn Errungenschaften zu höheren Zwecken ver-
wertet, odcr wie wir heutc sagcn würden, einer realistischen und ideali-
stischcn Periode.

Dah der Kontrapunkt in jencr crsten stecken geblieben wäre, ist
aber eine durch keine Thatsache zu erweisende Bchauptung. Hat sic
Lamprccht aufgestellt, um nicht vorzeitig Elemente in die Kunst hcrcin-
zubringen, die erst nach s600 auf dem Platze sein dürfen? Jch möchte
geradc hier nicht nur nochmals daran crinnern, dah die geistige Ge-
bundenheit ja immer noch in der Vielstimmigkeit deS Satzes gewahrt
bleibt, sondern auch das Necht des künstlerischcn Genies zur Diskussion
stellen. Viele Leute haben sich aus Unkenntnis oder sagcn wir infolge der lln-
möglichkeit oder auherordentlichen Beschwerlichkeit, genauc Kenntnisse zu
gewinnen, daran gewöhnt, die Tonsetzer der Zeit bis s600 in der
Hauptsachc als tüchtige kais6ur8 anzuseheu, als Technikcr, als wcnig
unterscheidbare Köpfe, denen die pcrsönlichc Note noch fast gänzlich fehlt.
Das ist irrtümlich. Wenn auch die Masse des Volkes damals noch dcm
Begriffe der Jndividualität fern stand, so müsscn wir doch auf Grund
der vorhandencn Zeugnisse darauf bcstehcn, datz dcr einzclne Künstlcr
auch in jener Zeit schon das Necht einer persönlichcn Auffassung und
Aussprache seiner Empfindungcn in Anspruch nahm. Jch kann hier
nicht auf Einzelhcitcn cingehcn; aber ich möchte Leser, die sich eine
Ahnung von der freicn und durchaus seelisch belebten Kontrapunktik um
die Mitte des s6. Jahrhunderts machen wollen, auf zwei Psalmcn cines
David Köler hinweisen, die gedruckt und jetzt von mir im Neu-
druck (bei Breitkopf L Härtehj herausgegeben worden sind.

Lamprecht gibt ja zu, dah vom welrlichen Lied aus allmählich
das Zm höhcren Sinne Seelische dcr Musik" bereits im (6. Jahr-
hundert sich entwickelt habc; abcr cr schiebt das mit Unrecht blotz auf
dcn allmählichcn Uebcrgang zum harmonischen Empfinden, dessen Ursache
frcilich nicht dargclcgt wird. Er übersieht ebcn, dah nebcn dem
Stimmunggebcn durch harmonischc Grundlage, wie bereits erwühnt,
schon in dcn Schrittcn dcr cinzelnen Stimmen, in ihrcm Rhisthmus und
in ihrcr kontrapunktischcn Vcrschmelzung ganz autzerordentlich mannig-
faltigc Mittcl zum Ausdruck dcs in höhcrcm Sinne Seclischcn lagen.

2. Februarheft zI02
 
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