zeitiger Literaturerscheinungen mit der Tendenz, diese in
jedem Falle allein nach den ihnen selbst innewohnenden
Ursach-Gesetzen zu beurteilen.
Daß durch diese Tendenz die kritische Arbeit höchst verwickelt wird
im Verhältnis zu ciner Zeit, da man irgend eine bestehende Kunst-
anschauung, und sei sie an sich noch so einleuchtend, als Maßstab, als
Kanon ansah, das ist klar. Erst jetzt aber wird in der kritischen
Thätigkeit das nachschasscnde Moment mehr betont. Wer ein Werk
aus seinen eigenen Schaffens-Bedingungen heraus beurteilen will, muß
von dem in diesem Werke waltendcn Schöpfergeist selber mindestens ein
Glimmen tragen, und dieses Glimmen wird er in jedem solchcn Falle
in sich zur Flamme schüren müssen.
Es ergeben sich aber noch andere Einschränkungen aus der be-
schriebenen Art kritischen Bestrebens. Jch möchte dabei auf eine hinweisen,
die sehr wichtig ist. Wer die Werke Mitlebender aus ihren Voraus-
setzungen heraus kritisieren will, hat dabei doch gewissc Nücksichten
zu nehmen — wie der Anatom nicht ohne wcileres sezieren oder gar
vivisezieren dars.
Die früher als Hauptaufgabe der Kritik geltende Arbeit, Unreifes
und unter einem gewissen Mindestmaß Bleibendes aus der kritischen
Betrachtung überhaupt auszuscheiden, dem Andern abcr „Zensuren zu
erteilen" —wird jetzt zu einer (schweren und an Mißgriffen reichen) vor-
bereitenden Thätigkeit. Vom „Urteilen" dieser Vorarbeit — schreitet
die Kritik zum „Begreifen." Und auch dies ist uns wiedermn eine
Vorbereitung vor der synthetischen Arbeit, dem eigentlichen Aufbau des
kritisch Gewonnenen: dem „Verbinden." Je nach Neigung und Ver-
anlagung kann ein Kritiker mehr an diesem, der andere mehr an
jenem Teile der Aufgabe arbeiten.
Gewissermaßen die Lebensvoraussetzung ciner literarischen Kritik
ist der Begriff „Literatur," er ist es deshalb, weil die Kritik ihn sich
geschaffcn hat odcr fortwährend ncu zu schaffen strebt,' der Begriff
„Literatur" ist nicht ein litcrarischer, sondern ein kritischer Begriff.
Auf ihr Entstehen hin betrachtct ist der Zusammenhang der
literarischen Schöpfungen und der literarischen Persönlichkeiten nicht enger,
als überhaupt der Zusammenhang zwcier Dinge in der Welt: sie haben
alle ein Verhültnis zucinander in Raum und Zeit, sie entspringen zuletzt
aus derselben mpstischen Quelle, die wir Stoss, Geist oder Entwicklungs-
bestrebcn nennen können. Bei der Entstehung eines literarischen Werkes
(wir müssen hier aber ganz ins Jnnerste dringen, müssen uns selbst
an den Moment des Schaffens erinnern können) ist das Bewußtsein
oder das Bestreben oder die Thatsache eines Zusammenhanges des
literarischen Schaffens im Sinne einer „Literatur" vollkommen unthätig.
Man darf vielleicht dcn Satz aufstellen, daß das Werk um so weniger
„literarisch" wird, je mehr (und störender) etwa die abstrakte Er-
innerung an einen solchen Zusammenhang sich dem Autor zwischen
die Feder geklemmt hat. Jmmer noch eher dürfte zum Wesen des
Schaffens der Wunsch gehören, durchaus nur das Eigene zu sagen und
nach Möglichkeit aus jedem denkbaren Rahmen zu treten.
n Märzheft ,902
— 52, -
jedem Falle allein nach den ihnen selbst innewohnenden
Ursach-Gesetzen zu beurteilen.
Daß durch diese Tendenz die kritische Arbeit höchst verwickelt wird
im Verhältnis zu ciner Zeit, da man irgend eine bestehende Kunst-
anschauung, und sei sie an sich noch so einleuchtend, als Maßstab, als
Kanon ansah, das ist klar. Erst jetzt aber wird in der kritischen
Thätigkeit das nachschasscnde Moment mehr betont. Wer ein Werk
aus seinen eigenen Schaffens-Bedingungen heraus beurteilen will, muß
von dem in diesem Werke waltendcn Schöpfergeist selber mindestens ein
Glimmen tragen, und dieses Glimmen wird er in jedem solchcn Falle
in sich zur Flamme schüren müssen.
Es ergeben sich aber noch andere Einschränkungen aus der be-
schriebenen Art kritischen Bestrebens. Jch möchte dabei auf eine hinweisen,
die sehr wichtig ist. Wer die Werke Mitlebender aus ihren Voraus-
setzungen heraus kritisieren will, hat dabei doch gewissc Nücksichten
zu nehmen — wie der Anatom nicht ohne wcileres sezieren oder gar
vivisezieren dars.
Die früher als Hauptaufgabe der Kritik geltende Arbeit, Unreifes
und unter einem gewissen Mindestmaß Bleibendes aus der kritischen
Betrachtung überhaupt auszuscheiden, dem Andern abcr „Zensuren zu
erteilen" —wird jetzt zu einer (schweren und an Mißgriffen reichen) vor-
bereitenden Thätigkeit. Vom „Urteilen" dieser Vorarbeit — schreitet
die Kritik zum „Begreifen." Und auch dies ist uns wiedermn eine
Vorbereitung vor der synthetischen Arbeit, dem eigentlichen Aufbau des
kritisch Gewonnenen: dem „Verbinden." Je nach Neigung und Ver-
anlagung kann ein Kritiker mehr an diesem, der andere mehr an
jenem Teile der Aufgabe arbeiten.
Gewissermaßen die Lebensvoraussetzung ciner literarischen Kritik
ist der Begriff „Literatur," er ist es deshalb, weil die Kritik ihn sich
geschaffcn hat odcr fortwährend ncu zu schaffen strebt,' der Begriff
„Literatur" ist nicht ein litcrarischer, sondern ein kritischer Begriff.
Auf ihr Entstehen hin betrachtct ist der Zusammenhang der
literarischen Schöpfungen und der literarischen Persönlichkeiten nicht enger,
als überhaupt der Zusammenhang zwcier Dinge in der Welt: sie haben
alle ein Verhültnis zucinander in Raum und Zeit, sie entspringen zuletzt
aus derselben mpstischen Quelle, die wir Stoss, Geist oder Entwicklungs-
bestrebcn nennen können. Bei der Entstehung eines literarischen Werkes
(wir müssen hier aber ganz ins Jnnerste dringen, müssen uns selbst
an den Moment des Schaffens erinnern können) ist das Bewußtsein
oder das Bestreben oder die Thatsache eines Zusammenhanges des
literarischen Schaffens im Sinne einer „Literatur" vollkommen unthätig.
Man darf vielleicht dcn Satz aufstellen, daß das Werk um so weniger
„literarisch" wird, je mehr (und störender) etwa die abstrakte Er-
innerung an einen solchen Zusammenhang sich dem Autor zwischen
die Feder geklemmt hat. Jmmer noch eher dürfte zum Wesen des
Schaffens der Wunsch gehören, durchaus nur das Eigene zu sagen und
nach Möglichkeit aus jedem denkbaren Rahmen zu treten.
n Märzheft ,902
— 52, -