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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 11 (1. Märheft 1902)
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H. H.: Literarische Kritik und literarisches Schaffen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0559

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Einzelnen nachzuweisen, wie jedes wirkliche literarische Kunstwerk, sei es
nun das von Lienhard zitierte mit goethischem „religiösem Sinn, einen
tiefen, unerschütterlichen Ernst," sei es das lärmende oder flatterhafte
Kunstwerk der Bierbaum, Wolzogen und ihrer „Aestheten", — ich sage:
wie all diese so verschiedenartigen und nach ihrem Gewicht an Gedanken
und Gefnhlen so verschiedenwertigen Kunstwerke doch auf eine und die-
selbe Schaffensweise in Erscheinung treten.

^ -i-

Diese Darstellung auf die Kritik der „Ueberbrettl"-Kunst anzu-
wenden, ist eigentlich überflüssig. Denn das — neben der verschiedenen
Blutsveranlagung — Hauptsächlichste ist oft ausgesprochen worden: die
instinktive Opposition gegen Mißbrauchtes, banal Gewordenes und gegen
Erscheinungen, die, wie so oft der nwderne „Patriotismus", zu Trägern
schmarotzender Nebentendenzen geworden sind. Worin mir die Groß-
stadt-, insbesondere die Berlinische Kunst den ihr entgegengesetzten Be-
strebungen überlegcn scheint, das ist die Anpassung in Tonart und
Tonstärke an die Oeffentlichkeit. Jch will das in diesem Zusammen-
hange nicht weiter ausführen und nur noch bemerken, daß die meisten
mir veiannien Ueberbreiti-Terie außee Verl>!nvuug mit ver Darstel-
lung, die ja auch den Dichtern vorschweben mußte, vor der vorhin
erwähnten urteilenden Kritik schwerlich Gnade finden könnten. Als
Stücke eines gemischten Genres aber muß man sie ja wohl, wie
sie, fertig erst auf der Bühne, vorgestellt werden, großentcils als in
ihrer Art immerhin genügende Leistnngen gclten lassen.

Nun einige Worte über die immer noch nicht ausgestorbenen Er-
scheinungen der Kliguen-Bildung und der Kliguen - Kämpfe unter den
literarisch Schaffenden. Auch sie sind Erscheinungen, die gcgeben sind
und in den Bereich der „Kritik" fallen, und zwar sind sie als solche
für die Kritik sogar em ünßerst fruchtüarcr Stoff. Was hat die Kritik
nicht allein in jenen Stürmen der „naturalistischcn" Bewegung lernen
können: sie haben ihr genützt wie ein großer Krieg der Chirurgie:
durch ihr Zutragen von Studicnstoff. Die Kritik hat seitdem ihren
ganzen Jnstrumentenschrank neu ausgestattet, ihr ganzes Sgstem ge-
ändert und sie hat einen ungeheuren Zuwachs von Kräften (und zwar
empfindlich auf Kosten der schaffenden „Literatur") erfahren. Sie
hat sehr vicle Dummhcitcn einsehen können. Vor ihr, wie sie jetzt ist,
haben dic „Naturalisten" weder gesiegt noch nicht gesiegt, — nur die
von naturalistischer, d. h. entwicklungsgerechter Auffassnngsweise aus-
gehenden kritischen Kämpfer haben in gewissem Sinne gcsiegt. Abcr
trotz dicses an sich wohlberechtigten Sieges mit seinen unverlierbaren
Errungenschaften der besonnenen Abwägung haben die deutschen Dichter
schmeren Schaden erlitten. Manche in altgewohnter Art Schaffenden,
die rvir heute allgemein anerkennen, sind damals beschimpft und ver-
letzt, ja, manche davon sind unfruchtbar gemacht worden, und sicherlich
haben nur zu vermutende, aber nicht nachzuweisende Talente den An-
schluß an das Schaffen in dieser Zeit der kritischen Quülerei verpaht.
Manche Nullen wieder und Narren sind damals hochgekommen, wclche
später die verbessernde Gerechtigkeit der Dinge entiäuscht hat.

-r-

Aunstwart
 
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