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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1902)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Uebungen im Gedichtlesen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0607

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lich aber steht es bci unserer Dichtung: um hier die Genußfähigkeit
anzuregeu und den Sinn für das Wcsentliche einzustellen, ist noch so
gut wie nichts geschehen. Gibt es ein traurigeres Zeichcn dafür, als
daß man den Mangel nicht einmal fühlt, daß man von der Notwendig-
keit ciner litcrarischen „Erziehung" nicht einmal spricht? Dabci ge-
haben sich bei uns in Drama, Erzählung und Lyrik Pfuscher und Macher
so breit, wie das in den andern Künsten doch mohl kaum möglich wäre;
wir erlcben es, daß Kolportageschreibcr bis weit in die Kreise der sonst
Gebildeten hinein ihrcn Baucrnfang treiben, daß man, wie im Falle
Ambrosius, die Reimereien einer nachempfindenden Dilettantin in hundert
Auflagcn ausstreut, daß Witzler von der Plattheit eines Blumenthal und
Sensationsleute von der Obcrflächlichkeit eines Sudermann nicht nur
auf dcn Bühnen gespielt, sondern auch in der Presse gelobt wcrden, ge-
pricsen werdcn, während Münner wie Raabe, Mörike, Hcbbel, die längst
die großen Beglücker von Hunderttausenden sein könnten, nur langsam
kleine Gcmeinden vergrößern. Aber auch d i e Kritik, die ernsten Willens
zur Tiefe strebt, ist auf das Tasten eines heut so, morgcn anders ge-
stimmten „Geschmacks" angewiesen, der nicht das Ergebnis einer Schulung
ist, die alle Fehlerqucllen und alle Möglichkeiten etwaiger Vorzüge im
Auge bchält, wic wir das doch von der Kritik der bildcnden wie der
tönenden Künste längst verlangen. Wer z. B. die Braunschcn Samm-
lungen von Kritiken aus dcm achtzehnten Jahrhundert kennt, wird beim
Vergleich zwischcn damals und heute erschrecken.

Nllgemeine theoretische Betrachtungen nützen auch hier nicht viel,
dcnn übcr die „Gesetze" einigt man sich zumeist rccht schnell, nicht aber
übcr ihrc Anwendung auf dcn cinzelnen Fall, und doch kommt hierauf
alles an. Man muß den Leser bitten, den cinzelnen Fall, sagen wir
zunächst: das einzelne Gedicht in aller Nuhe mit ihm durchzugehu. Auch
hier werden Sprcchcr und Hörer sehr oft verschiedener Meinung sein,
aber auch dann wird der Sprecher dem Hörer mitteilen könncn, warum
ihm etwas Eindruck macht, er wird dem Hörer die Möglichkcit geben,
seine, des Sprechers, Gefühle nachzubilden, und wenn des Hürers
Phantasie hier mitgeht, dort das Mitgehn vcrweigert, so wird diese
Einigung und dieser Widerstren doch immer eine Uebung der Kräfte
scin, die hier walten. Darauf kommt es an, nicht etwa darauf, be-
stimmte Urteilc einzureden — den Weg zu gehn ist viel wich-
tiger, als das gemeinsame Ankommen an einem Endpunkt. Künstlerischer
Genuß ist ja immer eine Auseinandersetzung zwischcn des Schöpfers und
des Gcnießendcn Persönlichkeit — wir zwei, der Leser und ich, wir bei-
den Gcnicßendcn, sind nun zwei vcrschiedene Leute, und so müssen wir
ja in dem und jenem den andern, den Schöpfer, verschieden empfinden.
Deshalb würd' ich die folgenden Uebungen selbst dann noch nicht für
verloren halten, wenn wir niemals ganz einer Meinung wären.

i. lZbencktiecl von Gottsriecl lieiler.

Jch eröffne diese Folge, die dann uud wann auch Beispicl und Gcgcn-
spiel zeigcn soll, mit dem Kcllerschen „Abendliede". Als diescs Gedicht zum erstcn
Malc gcdruckt erschien, schrieb mir Theodor Storm, dor als Ltritiker so be-
deutend war, wie als Dichter, darüber in höchstcr Ergriffcnhcit. Er wüßtc
nicht, was cr darum gäbe, wenn cr dieses Abendlied gedichtct hätte — cr kcnnc
von Lyrik nichts Herrlicheres. So ist es sicher unsrer Teilnahme wert.

2. lllärzheft ^902
 
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