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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 17 (1. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0381
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Epochen wie denr Gesamtdasein des
Individuums wie der Völker zu-
grnnde liegt. Fa, es gibt Philo-
sophen, welche das gesamte
Weltgeschehen an dcr Hand
dieses pshchologischen Schcmas —
These, Antithese, Shnthese — nach-
zuweisen sich bemühten.

Wir brauchen darum nichts Be-
denkliches in der Tatsache zu fin-
dcn, daß eine Richtung die andre
ablöst, daß die künstlcrischen Tages-
größen dem Wechsel unterworfen
sind, daß immcr wieder neuc Ge-
schmacksrichtuugen Gcltung gewin-
nen. Das liegt nun einmal in
der Menschen Art und ist darum
naturnotwendig.

Von diesem Gesichtspunkte aus
ist auch die Popularisicrungsgefahr
zu beurteilen. Wohl mag bei dem
einzelnen die starke Ergriffenhcit,
die er beim erstmaligen Hören des
Lhopinschen Traucrmarsches, beim
erstmaligcn Schauen eincs Böcklin-
schen Bildes empfand, nach und
nach bei öfterer Wiederholung
schwächer werden, ja es kann durch
Abermüdung ein Verdruß entstehen.
Abcr man bcdcnke doch gleichzeitig,
daß jeder einzelne im Volke sclbst
wieder ein zum ersten Male Lau-
schender, ein zum ersten Male
Schauender ist, und daß die Ur°
wüchsigkeit des Genusses, die uns
durch die ins Abermaß gesteigerte
Wiederholung verloren ging, bei
ihm noch zu finden ist. Von
diesem Gesichtspunkte aus — und
er ist dcr o b j e k t i v - p s y ch o -
logische — wird also durch die
Verbreitung, durch die Popularisie-
rung eines Kunstwerks die Wir-
kung nicht verringert, sondern ver-
hundcrt- und vertausendfacht. Die
entgegengesetzte Meinung beruht
auf ciner subjektiv-psycho-
logischen Beobachtung, deren Ver-
allgemeinerung irreführt.

Was sich übcrhaupt popularisie-

rcn läßt, was wirklich von ciner
brciten Masse, vom Volke, mit
Leidenschaft ergriffen wird, beweist,
daß ein starkes, lebendiges Bedürf-
nis vorhanden war, das gestillt
werden wollte. Sind uns Goethe,
Schiller und Uhland, Dürer,
Schwind und Richter durch ihre
Popularisierung ctwa entfremdet
worden? Was uns vcrekelt wer-
den kann, das ist lcdiglich die los-
getrennte Forin, das Epigoncntum,
die Stilrichtung, soferue sie nicht
mehr Ausdruck eines zu-
grunde liegenden Gehal-
tes ist. Die großen Meister, dic
jene Form erschufcn, bei dcnen sie
noch uaturnotwendiger Ausdruck
eines Innenlebens war, bestanden
die Feuerprobe der Popularisie-
rung.

Hinsichtlich der Frage der „Kunst-
erziehung" wäre deutlicher zu
unterscheiden zwischen der Bil-
dung des Künstlers und der
Erzichung und Bildung einer Menge
durch die Kuust.

Obrist ist sicher im Rcchte, wenn
er tadelt, daß man heutzutage dem
werdenden Künstler zu viel Vor-
bilder gibt, zu viel „Kunstgesetze"
einprägt und dadurch die eigene
künstlerische Naivität schädigt. Aber
cr täuscht sich wohl, wenn er
glaubt, starke Talente würden
dadurch zeitlebeus lahmgelegt.
Geniale Naturcn bcfreien sich, auch
wenn sie diese oder jene Schule
durchlaufeu haben, am Ende doch
von jedem Zwang. Das ist cbenfalls
eine hundertfach beglaubigte histo-
rische Tatsache. And viellcicht ist
es gerade jener Drang zur Anti-
thcse, zur Neaktion, der sie, weil
sie in der oder jener Nichtuug
erzogen wurdcn, nun plötzlich in
die entgegengesctzte treibt, sie unbe-
tretene Pfade finden läßt, die zu
völlig neuen Iielen führen.

Aber Kunst als allgemei-

^ AH Kunstwart XXII, l?
 
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