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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 17 (1. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0382
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nes Bildungs- und Lrzie-
hungsmittel gibt cs trotz man-
nigfach versuchter Aufklärung so
viel falsche Anschauungen, daß man
sich wundern muß, wie sclbst in
gcbildeten Kreisen eine durchaus
gesunde Bestrebung so stark ver-
kannt werden kann. Es handelt
sich in unsern allgemeinen Bil-
dnngsanstalten nicht darum, neue
„künstlerische Fächer" einzuführcn
oder Kenntnisse über Kunst zu ver-
breiten. Es handelt sich überhaupt
nicht um ein Untcrrichtsfach,
sondern um cin Unterrichts-
prinzip. Wohl mag es hie und
da Pädagogen gcben, die jcner
Lehrerkarikatur entsprechen, die
Obrist mit künstlerischer Frciheit
vorführte, Pädagogen, die glau-
ben, mit ciner Mehrung von Ge-
dichten, von Bildern, von Liedern
und Schauspielereien seien die Auf-
gaben der Kunsterziehung zu er-
füllen. Die Einsichtigen auch in
nnserm Kreise sind ganz andrer
Meinung. Ans handelt es sich
gerade um die Veseitigung jenes
pedantischen Zwangcs, dcr Obrist
so sehr auf die Nerven geht, ge-
rade um die Weckung der Lust an
eigner Kraftbetätigung, um die
Freiheit individueller Außerun-
gen, kurz: gerade um.Leben statt
Papier und Regel.

Die ncue Richtung ist nichts
andres als die pädagogische Konse-
qucnz neucr wissenschaftlicher, ethi-
scher und sozialpolitischer Errnn-
genschaftcn und Wcrtungen.

Die Grundanschauungen dcr Psy-
chologie haben in den vcrgangenen
Iahrzehntcn eine Wandlung cr-
fahren: der psychologische Intellek-
tualismus eines Hcrbart wurde
verdrängt durch die voluntaristischen
Shstcme Wundts und Paulsens.
Man glaubt nicht mehr an die
Priorität dcr Gcdankenwelt; man
nimmt dcn Menschen in erster

Linie als fühlenden und wol-
lenden. Darum sucht man ihn
zum lebcndigcn Einfühlcn und zu
einem lustbetonten Handeln zu
bringen. Man sucht den psy-
chologischen Werdegang, den
man bei Entstehung eines
Kunstwerks bcobachten konnte,
auf den gesamten Lernprozeß
zu übertragen. Man erzieht
und unterrichtet nach ncuen Grund-
sätzen, nicht in neuen Stoffen. Die
Schüler sollcn gereizt werden zu
individueller Außerung; sie sollcn
sich nicht nur rezeptiv, sondern auch
Produktiv verhalten dürfen. Daher
die größere Freiheit, die größere
Lebhaftigkeit in den einzelnen
Klassen.

Kein vcrnünftiger Lehrer sctzt
Üch zum Ziel, Künstler erziehen
zu wollen. Es kommt ihm gar
nicht anf den künstlcrischen Wcrt
der Kinderproduktion an, sondern
auf die physischen und pshchischen
Kräfte, die zur Betätigung ge-
langtcn, als dic Schüler ihrcm
Innenleben einen adäquaten Aus-
druck zu gebcn sich anschicktcn.
Kraft soll gebildet, Selbsttätig-
kcit geweckt wcrden; denn selb-
ständig denkende und handelnde
Menschen tun unscrm Volke not,
nicht Astheten, nicht weltfrenide
Intellektualisten, nicht abstrahie-
rende Wisser, sondern Könner.

Iedcr Gedanke springt, wcnn
man ihn konscquent bis zum
äußersten verfolgt, am Ende in
sein Gegenteil um. Fricdrich
Nictzsche hat darum die Logik mit
einer Schlange verglichen, die sich
beständig in dcn Schwanz beißt.
Seine eignen kühnen Gedanken-
sprünge bieten eine treffliche Illu-
stration dazu. Der große Prozcß
der Welt- und Lcbcnsentwicklung —
logisch gedeutet — findet eben seine
Kongruenz auch in jedem Einzel-
gcschchen. Wcnn nun irgcndein

h Iuniheft V09 2s5
 
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