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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Laiengedanken vom Richtertum
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0399
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darf, von Ausnahmen nach dem Verläßlichen hin? Andre sind
ja auch so gerecht, daß sie die Personen der Richter aus dem Spiel
lassen. Die meinen vorsichtig nur allgemein: wir haben zu unsrer
Rechtspflege nicht viel Vertrauen mehr. „Einfacher ist immer, man
knobelt's ausl", sagte einer, der selbst ein hoher Iurist war. Warum
es so sei, darüber kommt erst, wenn man drängt, allerhand Meinung
auf den Tisch. „Die Iuristen sind auch Menschen!" And der For-
malismus! Das Römische Recht! Anderseits wieder: das schlechte
Gehalt bei gesteigerten Ansprüchen! Das Mechanisieren! Die
Arbeitsüberlastung! Ilnd zehn Schüsseln sonst noch, alle schon mit
Mischkost.

Angenommen einmal: der Iuristenstand sei wirklich „im Ent-
arten". Ist es denn nicht Narrheit, anzunehmen, irgendwo in einer
menschlichen Gesellschaft entarte ein Beruf allein? An Mahnungen
auch aus dem Iuristenstand selber hat's nicht gefehlt. Warum
krochen alle samt allen Beschwerden aus Laienkreisen ohne Spuren
über die grünen Tische? Wo der Gesellschaft eins ihrer Funda-
mente unzuverlässig wird, warum handelt sie da nicht mit dem
Aufgebot aller Entschiedenheit? Man meint doch wohl, die Sache
sei nicht so schlimm. Nnd daß man das meint, deutet, scheint mir,
auf einen allgemeineren Schaden, als daß man den Iuristen allein
die Verantwortlichkeit für den heutigen Zustand zuschieben könnte.
Ist etwa die ganze Gesellschaft „im Entarten", zu der auch die
Iuristen gehören?

Das jedenfalls ist sonderbar: Wie tausendfach auf unsre Iustiz
gescholten oder geschimpft wird, dem einzelnen Fall gegenüber hat
unser Volk Lammsgeduld. Der frivole Spaß: erstaunlich, wieviel
fremden Schmerz man ertragen kann, den proben wir alle Tage
aus, auch wenn sich's um Schmerz handelt, den die Obrigkeit von
Rechts wegen andern antut. Wie viele Nrteile werden bekannt, vor
denen man sich an die Stirn faßt, besonders wenn man die milden
und die harten miteinander vergleicht — aber zu einem einmütigen
„das geht nicht" allgemeinen Protestes kommt es nie. Noch zu
nachdrücklichen Nntersuchnngen und zu öffentlicher Klärung der ein-
zelnen FLlle. Eine Taglöhnersfrau stiehlt drei Tage nach ihrer Ent-
bindung Holzspäne, um ihrem Kinde die Milch anzuwärmen — Rück-
fallsdiebstahl (wie kam der erste zustande?), ein Iahr Gefängnis,
bei der Revision spricht der Reichsanwalt selbst für Aufhebung des
Nrteils, weil das drei Tage alte Kind ohne erwärmte Milch gestorben
wäre — tut nichts, das Reichsgericht verwirft die Revision.
Anderswo gibt es Monate für die Aneignung einiger Schaufeln Mist.
Arbeiter, denen nichts weiter nachzuweisen ist, als daß sie bei ciner
Wahlrechtsdemonstration eines Sonntagvormittags gestikulierend in
den ersten Reihen gelaufen sind, schließt man neun Monate, schreibe:
neun volle Monate ins Gefängnis. In Berlin dagegen. . .

Nein, ich will nicht ins Aufschreiben unverständlicher Nrteile
kommen — es weiß ja jeder, daß sich das ellenlang fortsetzen ließe.
Auch mit „Gegenbeispielen", die zeigen könnten, wie dieselbe Frau
Iustitia liebe Kinder schonen kann, die böse zerdonnert. „Man darf
nie nach Zeitungsberichten gehen, man muß immer auf das aller-

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