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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,1.1909

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8818#0454
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Iahrg.23 Zweites Dezemberheft 1909 Heft6§

Weihnachten

^W^ie eineir klagen: „Noch nie war die Religion so tot wie jetzt." Die
^^^andern frohlocken: „Seit langen Iahrzehnten ist der religiöse
^^Drang nicht so stark gewesen, wie jetzt.« Wer kennt seine Zeit?
Ein jeder sieht nur, woran sein Weg vorüberführt. Ein jeder
nur, was seine Augen erfassen können. And die Wellen gehn über
die Oberfläche oft anders, als in der Masse die Strömung geht. Es
gibt auch nicht bloß eine Strömung im Meer. So kann es ge-
schehn, wie manchmal an der See: die Flut kommt zu dir und schüttet
sich sichtbar zu dir hin, aber was du vor sie wirfst, das zieht sie dennoch
von dir weg und hinaus. Ein andermal legt sie dafür sacht an den
Strand, was in den Weiten verloren schien. Wer kennt seine Zeit?
Was heut noch so machtlos ist, daß man kaum darauf achtet, kann
plötzlich im Parlament der Geister die Mehrheit gewinnen und regie-
ren. Das Alte aber bleibt dennoch da, wartet und wirkt im stillen.

Wem Religion und Glauben, oder gar nur der Glauben an
das, was uns Christen die Bibel sagt, ein und dasselbe ist, der mag
jetzt trauern, denn der Glaube in diesem Sinn, der ging zurück.
Immerhin fragt sich: ist das ein Versinken oder ist's ein Ebben, dem
später ein Fluten folgen wird? Aber Religion ist ja nicht das-
selbe, wie irgendein bestimmtes Glauben an dieses oder das. Sie
kann das wechseln, an was sie glaubt. Es gibt eine Religion des
gläubigen Christen und des gläubigen Iuden, des gläubigen Heiden
und des Atheisten, der an Wegen baut nach irgendwelchen Idealen
hin — selbst streng christliche Theologen haben ja auch solcher Männer
Trieb als Religion längst anerkannt. Der Streit um den Wahr-
heitsgehalt der einzelnen Religionen ist etwas anderes, wovon
wir hier gar nicht sprechen. Prüfstein der Echtheit religiösen Ge-
sühls als solchen ist nicht, ob wirklich ist, was einer glaubt, sondern
die Inbrunst, mit der er's für wirklich hält. Ich für mein Teil weiß
nicht einmal, ob solches Gefühl mit einem sichern „dieses glaube ich"
verbunden sein muß. Denn so alt ich bin, ich habe noch nie eine meine
Fragen stillende Bestimmung dessen gelesen, was ich als religiöses
Gefühl in den andern und in mir selber finde. Immer wieder: als
ein Gefühl. Das mich mein Berbundensein fühlen läßt mit
allem, was sichtbar und unsichtbar war und ist, mit allem, was
wirkt, ob ich's kenne oder nicht. Mich einzelnen als ein kleinstes
Stückchen, als kleinstes Organ, das mitgelenkt wird von der All-
gemeinheit und für sein Teilchen ihr wieder dient. Ein Teilchen,
das die Gesamtwirkung der Kraft der Welt beglückt erahnt, indem
es auch sich selber von ihr gehalten und bewegt, von ihr getragen
und in ihr mittragend fühlt. Wenn ich mir am tiefsten dessen be-
wußt werde, daß ich lebe, und im Ganzen lebe, dann ist mir's,
als würde ich geweiht. Andern mag's anders gehn, vielleicht nenzrt
jeder einfach dasjenige in seinem Fühlen Religion, was er aus dem
Unbewußten heraus als das beste in seinem Fühlen empfindet. Aber

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