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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 13 (1. Aprilheft 1912)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0077
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Verwirrung.* Dieselbe betriebsame
Dame hat die grandiose Entdecknng
von einer „Zentrale" des Körpers
gemacht, von der alle schönen Geh-
bewegungen angeblich ihren Ur-
sprung nehmen: eine Stelle am
Krenz, wo gar keine Mns-
keln sitzen, die mit dem
Gehen direkt etwas zn tnn
hätten! Aber dieser Unsinn ist
schon von Hand zu Hand in gewis-
sen Kreisen weitergegeben worden,
so daß er in dem neuesten Werk
einer andern Dame über die
„Künstlerische" Gymnastik in einer
verwandten Einkleidung wieder
auftaucht. Denn da heißt es von
der Gehbewegung, nachdem der
linke Fuß vorgestellt sein soll: „Hebe
das rechte Bein aus der Kreuz-
gegend mit dem großen Nük-
kenmuskel, von denen (!) sich
einer links und der andere rechts
vom Rückgrat befindet (siehe Ab-
bildung) und schwinge das Bein
nach vorn." Ganz abgesehen davon,
daß das Bein ja überhaupt nicht
„in der Kreuzgegend" sitzt, also auch
aus dieser nicht herausgehoben wer-
den kann, zeigt nun das Bild, auf
das verwiesen wird, den „großen
Nückenmuskel", der gemeinlich der
„breiteste" Rückenmuskel genannt
wird. Vor dem Spiegel stehend,
mit erhobenem Arm, sehen wir sei-
nen oberen Verlauf die hintere
Wand der Achselhöhle bilden. Er
zieht den Arm nach hinten und
das Schulterblatt abwärts und ist
ein energischer Rumpfstrecker. Und

* Die eine Schulter kann ja gar
nicht die andere mit sich ziehen,
einfach weil ihre Muskulatur nicht
nach der andern Seite übergreift!
Vorn bildet die Mittellinie des
Schlüsselbeins, hinten die des Rück-
grats eine reinliche Scheidung zwi-
schen den Schulterregionen der bei-
den Körperhälften!

ausgerechnet e r soll nach Anwei-
sung der zitierten Verfasserin das
rechte Bein heben! Wahrscheinlich
liegt hier eine Verwechslung mit der
Funktion des Wadenmuskels vor!

— Äberhaupt muß das Gehen noch
mancherlei Mhsterien enthalten, von
denen unsre Schulweisheit sich nichts
träumen läßt, denn eine andere
Sibylle der Schönheitspflege, eine
Engländerin, empfiehlt besonders
für „solche Frauen, deren Nerven-
shstem nicht ganz intakt, irgendwo
angegriffen ist, und die die Bieg-
samkeit und Elastizität ihres Gan-
ges verloren haben", eine eigen-
artige Atmungsmethode; sie sollen
nämlich mit dcm Zcigefinger den
einen Nasenflügel schließen, durch
den andern tief einatmen, dann die-
sen mit dem Finger schließen und
durch jenen ausatmen und so fort
mit Grazie. Wenn sich danach die
Elastizität des Ganges nicht ein-
stellt, will ich ein Schelm heißen!

— Wieder eine andere Priesterin
der Atmungskunst hat herausge-
bracht, daß die Lunge — die doch
nach unsrer gangbarcn Vorstellung
für die Einatmung nur erweitert
werden kann durch die Atmungs-
muskeln (Zwerchfell und Zwischen-
rippenmuskeln) — eine eigene
Bewegung besitzt, „die von der größ-
ten Bedeutung für den Organismus
ist"; leider habe „man in den wis-
senschaftlichen Kreisen nichts getan,
diese Eigenbewegung anzuregen
oder zu befördern". Ach, die arme
Wissenschaft, die so blind war,
diese Lungenbewegung noch gar
nicht zn entdecken! Die Anatomen
und Phhsiologen werden aber jctzt
viel Neues über die Lunge lernen
müssen. Iene Lehrerin der „künst-
lerischen" Ghmnastik verlangt von
ihren Schülerinnen sogar eine Aus-
atmung „mit völliger Entleerung
der Lungen". Arme Lungen! In
ihrem Buche redet sie einmal davon,

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