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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1912)
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Rath, Willy: Strindberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0423
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weil es als Bekenntnisschrift nicht zu den wesentlichen Dokumenten zählt,
die durch ihre innere Kraft die Aotwendigkeit ihrer Entstehung bezengen,
durch seltenen enthüllerischen Wert Anspruch auf Fortdauer erwarben.
Strindbergs Persönlichkeit aber kann aus der Geschichte der modernen
Kultur nicht mehr verschwinden; sie wird vielmehr, darf man mutmaszen,
im Wandel der Zeiten immer entschiedener als Vorbild-Typus des
„modernen" Menschen in unserm engern Sinn, des faustischen Enropäers
aus der zwciten Hälfte des neunzehnten Iahrhunderts, angesehen werden.

Darüber darf freilich nicht vergessen werden, dah Strindbergs Dichter-
tum denn doch die entscheidende, einigende seiner auseinanderstrebenden
Kräfte war, die Voraussetzung seines eindringlichen Welt-Erfassens und
seiner Wirkung auf die öffentlichkeit. In seiner Iugendgeschichte „Der
Sohn einer Magd" schildert cr mit rührender Dankbarkeit, wie er nach
chemischen, zoologischen, anatomischen, botanischen, physikalischen, lateini-
schen Hochschulstudien, nach episodischer Tätigkeit als Hauslehrer und
Volksschullehrer, nach einem ergebnislosen Versuch mit der Schauspielerei
endlich ganz unerwartet den Dichter in sich entdeckt. Während er, auf
dem Sofa liegend, Pläne schmiedet, um Frieden ins Elternhaus zn
bringen, „fühlt er ein ungewöhnliches Fieber im Körper", und binnen
einiger Stunden entsteht in seinem Kopf eine zweiaktige Komödie, die er
in vier Lagen niederschreibt. „Als das Stück fertig war, stieß er einen
tiefen Senfzer aus, als seien Iahre von Schmerz vorüber; als sei ein
Geschwür geschnitten. Er war so froh, daß es in ihm sang. Ietzt wollte
er sein Stück dem Theater cinreichen. Das war die Rettung!" Am selbcn
Abend erschließt sich ihm mit einem Mal auch die Kunst, Verse zu machen,
die er znvor durchaus nicht erzwingen konnte. „Ihm schien's der Gnaden-
wirkung des heiligen Geists zu gleichen." Er las das Stück zweien seiner
gelehrten Bekannten vor. „Dann wurde das Urteil gefällt: die älteren
Freunde begrüßten ihn als Schriftsteller. Als sie wieder gegangen waren,
fiel er auf seine Knie nieder und dankte Gott, daß er ihn aus der Be-
drängnis befreit nnd ihm die Dichtergabe gegeben."

Als Chemiker, als Sozialpolitiker, als Kunstkritiker, als Erforscher der
organischen Natur, als Geschichtgelehrter und Philosoph hat Strindberg
in guten Stunden, vor seiner Verstrickung in Wahnideen, sehr Be°
achtenswertes und mehr als Liebhaberisches geschaffen. Dennoch war
bei so universaler Betätigung stets im Mittelpunkt seines Wesens der
Dichter lebendig. Dichter-Seher-Freude an der Erscheinungen Vielheit
und an der Gesetzmäßigkeit verborgener Zusammenhänge zog ihn zu den
Wissenschaften. Da er ein ganzer Kerl, ein titanischer Arbeiter war, wollte
er auch auf diesen Feldern sich nicht mit Spielerei begnügen und eignete
sich eine Menge vielgestaltigen Wissens an. Aber eine Gelehrtennatur
mit objektiver Beharrlichkeit und nüchterner Beherrschung aller persön-
lichen Empfindungen konnte er dennoch nicht werden. Versenkung in
stumpfsinnige Lernarbeit diente ihm wiederholt als tzeilmittel gegen Ge°
fühlsüberspannungen, doch allemal natürlich nur auf kurze Zeit.

Die Mehrung seines Naturwissens, die Selbsterziehung zu wisscnschaft-
lich scharfem Schauen kam auch unmittelbar seiner Dichtung zugute. In°
sofern dnrfte man ihn einen Naturalisten nennen, als unbestechliche Natur-
wahrheit sein Stil-Ideal, ,schlichteste Wiedergabe ernstlich durchschäuter
Wirklichkeit sein Darstellungmittel war. Keineswcgs aber könnte er

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