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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1927)
DOI article:
Michel, Wilhelm: Unschuld des Lebens
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https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0017

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und miL äußerstem EinsaH. Aber zugleich siehk diese KühnheiL wie höchste
DemuL aus. MuL und UnLerwerfung, SelbstverLrauen und FrömmigkeiL
schmelzeu bei ihnen wunderbar ineinander über. Sie regen sich srei, wie Vögel
oder Msche in ihrem ElemenL. Fch merke, wie sich das Leben in ihnen zusam-
mengezogen und verdichLeL haL. Sie sind den inwendigen Zuschauer losgewor-
den. Sie haben die MöglichkeiL zur Pose verloren. Sie können nichLs Fal-
sches Lun oder sagen; sie können noch irren, aber nichL mehr lügen. Alles ich
faktisch bei ihnen, völlig nüchLern und völlig rhyLhmisch. Jhr Handeln ist dichL
und saLL von AnLrieben; es stehL mi'L voller, rundplastischer Körperfülle zwi-
fchen den anderen Dingen dieser WelL. Und um noch einmal von dem inwen-
digen Zufchauer zn reden: der war wohl auch bei ihnen früher vorhanden,
stand neben ihrern Leben, die Hände in den Taschen, sah ihm spöLLifch zu
und machLe biLLere oder wihige Randbemerkungen. IehL aber ist cr still ge-
worden. Warum? Er schasft selber miL. Welches Wunder! Dieser hochge-
borene Müßiggänger, dieser Kritiker und KommenLaLor, er Lrägk ein ArbeiLs-
kleid und legL eifrig Hand ans Werk, er hilfL planen und schasfen, Schulter
an SchulLer miL den anderen WerkleuLen, die unser Leben bauen, dem farbigen
Volk der Leidenschaften, Gefühle und Verstandeskräfte. Das ist eine große
Veränderung. Fn ihr allein liegL fchon ein wesentlicher Zug der lknschuld des
Lebens beschlossen.

Denn Unschuld des Lebens heißL vor allem, fakLisch, dichL und einheiLlich sein;
ein wahres Geschöpf, bei dem alles AkLion und Leben ift; nichk gespalLen nach
ArL eines bewegLen ParlamenLs, sondern zusammengefügL nach ArL einer Werk-
gruppe, in der wohl die Arbeit, nichL aber der Wille geteilt iß. llnschuld des
Lebens heißL den Geist einarbeiten in den Lebensprozeß, so daß er nicht
als KriLik schaLLenhafL darüber schwebL, sondern als FakLor in das Handeln
einbezogen iß.

MelleichL klingL das fremd. Aber ich will sogleich an einen Fall crinnern, in
dem wir das, wovon hier gesprochen wird, alle sehr genau spüren. Wenn ein
Schauspieler auf die Bühne LriLL und eine Kaskade von verbundenen Assekten
herunterzuspielen hat, so merken wir sehr genau, ob ihn der innere, einheiLliche
Schwung in vollem Strom dahinträgL oder nicht. Wir nehmen scharf die
Stelle wahr, wo der unschuldige Ablauf des Gefühls stockt, wo der Mann
an der Rampe seelisch aufs Trockene geräL und plöhlich, von einer Sekunde
zur andercn, an Stelle der echten Wallung die dürre RouLine, das „GemächLe"
LriLL. Er brauchL nichk sichtbar zu ßocken, wir merken Lrohdem: jehk hat sich
in ihm ein Auge aufgetan, jeht sieht er sich selber zu, jehL erzwingk er, was
sich vorher freiwillig begab. Stimme und Bewegung werden falsch, der Sün-
denfall der inneren SpalLung hat sich ereignet.

Ebenso merken wir diese LoLen Stellen im Gebaren unsrer Nebenmenfchen,
wie es uns Läglich enkgegentriLL. Gegen nichks sind wir empfindlicher als da-
gegen, daß einer die Posikion, die er durch iWorL oder Geße bezogen hat, nichL
durchhalten kann. Sobald er sich innerlich spalket, hören wir falsche, schrille
und freche Töne. llnd werden von peinlichßen Empfindungen befallen. Ge-
rade das iß sonderbar. Der Tischredner, der ßeckenbleibt, was geht er uns im
Grundc an? Der Mensch, der in Gesellschafk eine Geßik, die er aus irgeudeiner
Laune gewählk hak, nichL durchführen kann und einen überßürzken Rückzug

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