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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1927)
DOI article:
Michel, Wilhelm: Unschuld des Lebens
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0018

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ankreken muß — wo und wic schädigk er unsre Inkeressen? Närgends. Und
doch verletzk uns chr Versagen aufs peinlrchste. Denn es ist ein Versagen im
KernpunkL der Lebenskechnik, und am Leben sind wir alle solidarisch inkeressierk.
Was uns in solchen Fällen unruhig machk, ist die 'Bedrohung der leHten
Lebensunschuld. 2Dir sehen greisbar den großen Bruch, der unser Dasein ge-
fährdek. Wir haben wohl Mikleid mik diesem Versagcn, aber zugleich auch
jenc Abwehr, jenes peinliche Erschrecken, das uns ctwas Tokes einslößk.

Es wird nun verständlich sein, was gemeink ist, wenn hier von einem „Einar-
beiken" des Geistes in den Lebensprozeß gesprochen wird: Es handelk sich darum,
daß wir uns als geschlossene, einheitliche Wesen verhalten. Es handelt sich
um jenes Zusammenwirken von Enkspannung und Kuhnheik, das sich in allem
echken Lebcn zeigk; einer Enkspannung, die zunächst einmal alle Kräfke in uns
freigibt, einer Kühnheik, die sich ohne Rückversicherung, ohne Seitenblicke zu
diesen Kräfken und zu unserem ganzen Wescn bekennt. Eine Fnkegrakion also;
cin Fallenlassen alles bloß Gewollken oder „Gemochken", alles Ergrübelken
und Zweikrangigcn; ein enkschlossenes Herunkergehen aus die Ebene unsrer gei-
stig-seelischen Latsächlichkeiten. Es heißk die inwendigen Kräfke loslassen und
in kaksächlichem Ringen gegencinanderschicken, damik sie sich ausarbeiken in Sieg
und Niederlage, nichk aber durch vorjchnelle Skrebungen und unauögereifke
Verboke in ihrcm Leben verfälscht werden. Die eigene Seele nichk fälschen,
das ist das erste Gebok. Sich phyfikalisch verhalken; der Schwerkrafk gehor-
chen; die eigene TatsächlichkeiL erspüren und auswirken; die inneren Wider-
sprüche nichk unkerdrücken, sondern freilegen und einen echtcn, faktischen Dialog
unker ihnen herstellen. Handeln ohne inneren Zuschaner, dessen Blick uns
immer unsicher machk; gelassen sein gegen uns selbst; handeln ohne Lampen-
fieber, ohne Kommenkar, so wie man handelk in Augenblicken dringendcr Ge-
fahr, wo die Abwesenheik fälschender Einflüsterungen von der Seite des Wol-
lens und der Beschauung unseren Kern in zeichenhafken Taten hervorkrekett
läßk. Goekhe notierk in seinen Prosasprüchen: „Handle, daß ich dich sehe." Aber
nur echtes Handeln ist da gemeink, ein Handcln, in das ein Mensch aus kie-
fem Selbstvergesfen die gesammelte Kraft scines Wesens hineingegeben hat.
Denn nur im Sclbslvergessen krikk das Selbst aktiv hervor.

Es gehört zur Unschuld des Lebens, daß man das rechke Bergessen kennk
uud übk. Das rechke Vcrgessen der eigencn Person, das uns iu den Skand setzt,
glcichsam subjektlos, gleichsam ichlos zu handeln und zu denken; das Vergejsen,
das uns ermöglichk, ein echkes Zch zu sein, aber nichk dieses Ich unker den
Glassturz der Bewußtheik zu stellen und es so zu lähmen. Selbstvergessen hcißk
sein Fch unverkürzt und direkt ins Handeln und ins Denken hineingeben, und
das beste Mikkel hierzu ist dic reine, ungebrochene Richtung auf das Ob-
jekt; also gcnau das, was man gemeinhin „Arbeik" nennt. Der Mensch ist
nur da vollkommcn gegenwärtig, wo er seine sämklichen Kräfke auf das Objekk
j cines ^runs richket; so ungebrochen, wie das Kind beim Spiel und wie der rechke
Handwerkcr beim Schaffen. Ein indischcr Weiser bezeichneke den Höhepunkt
jeiner perjönlichen Entwicklung mit den Boortcn: Zch habe mich so konzen-
trieren (d. h. verwirklichen und verdichken) gelernk wie ein Pfeilmacher. Er
sah also in dcr Art, wie ein Vertreker des am wenigsten geachkcten Handwerks
seinen vollcn Menschen in die Arbeik gibk, ein Musterbeispiel auch für das

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