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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,1.1927-1928

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1928)
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Bier, Justus: Betrachtungen über die neueste Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.8883#0422

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Farbe als MitLel stärkster Erregung benuHen und den einheitlichen Tiefenraum
durch Verschiebung der realen Größmverhälknisse in einen richtungslos wo-
genden Raum, der das Raumgefühl aber oft stärker als der konkrcte Tiefen
raum beansprucht, verwandeln.

Die Bilder der „nenen SachlichkeiL" dagegen überraschen durch den Verzicht
auf alle diese hergebrachten Darstellungsmittel. Eine Ilmkehr wird deutlich,
ein Wiederausgreisen der Mittel zeichnerisch-plastischer Anschauung, die zuleHt
das beginnende ig. Jahrhundert benüHL hatte, das eine ähnlichc scharfe Ilmkehr
gegenüber der völlig ins Malerische aufgelösten Kunst des 18. Iahrhunderts
sah. Die wechselnde Vcrfugung zeichnerisch-plastischer mit malerisch-auflösenden
Perioden ist in der bildenden Kunst nichts Neues, wenn auch das dahinker
stehende GeseH schwer faßbar ist. Denn mit der Erklärung, daß jede ausgebildete
Form in ihr Gegenteil umschlage, ist weni'g gesagk. Es scheint vielmehr eine
merkwürdige Derknüpsung zwischen einer in sich begründeten Entwicklung der
Kunst nnd ihrer Beziehung zum allgemeinen Wandel der geistigen Einstellung
zu bestehen. Ganz deutlich ist dies bei der Kunst des Expressiornsmus, der gleich-
sam nnt einer Witterung für das Kommende die Erschütterungen der abend-
ländischen Welt lang vor dem Krieg anzeigte. Und ganz ebenso scheint in der
Kunst dcr neuen SachlichkeiL das Gesichk unserer Zeit zu finden zu seiu, die nach
den Erregungen der vergangenen Iahrzehnte Ruhe und Ausgleich suchk, aber
ohne daß der Ausdruck eines vertiesten Erlebens, der nüt dem Expressionismus
in dic Kunst gekommen ist, aus ihr verschwinden soll.

Es muß, um allen salschen Deukungen zuvorznkommen, ausgesprochen werden,
daß dic Malerei an sührender Bedeukung innerhalb des allgemeinen geistigen
Lcbens dadurch eingebüßt hak, daß die Architektur in ihre alte Stellung als
Führerin der Künste wieder eingeseHL wird. Andererseits aber hat die neue
Malerei die Möglichkeit einer viel breikeren Wirkung, da sie — dem Wesen
des zeichnerisch-plastischen Stils gemäß — nach der Überwindung erster Fremd-
heik bei einem viel größeren Publikum Interesse finden kann als die mehr oder
minder große Kennerschafk oder doch Einfühlungssähigkeit vorausseHende Ma-
lerei des Impressionismus und Expressionismus. Die viclsache Beobachtung,
daß der mit der neuen Kunst noch nichk Verkrauke den Zeichnungen und Aqua-
rcllen sich verstehcnd nähert, vor der harten Festigkeit der Bilder aber zurück-
schrcckt, sprichk kanm dagegeu, da die Gewöhnung solche Widerstände zu be
seitigcn vcrmag.

Der Impressionismus wie der Eppressionismus kannte keincii solch grundsäH
licheu Untcrschied zwstchen Bild und Skudie, Lockerheik und Ausdruck persöu
licher Haudschrist wurde von der Bilderscheinung ebenso wie von der Studieu
zeichnung gefordert. Der heftige Pinselschlag, die pastose oder nur stellenweise
die durchscheinende Leinwand dichker mit Farbe bedeckende Malerei suchte auch
im Bild den Werdeprozeß des Kunstwerks durchsichkig zu machen: es schieu eiu
wesentlichcr Reiz, wenn aus dem fertigen Kunstwerk noch die Erregungen des
Schaffcnsprozesses sich herausspüren ließen.

Die neue Malerei hat einen völlig anderen, strengeren Bildbegriff. Das ge-
staltete Kunstwerk soll mit aller Strenge des Vollenderen erscheinen, auf die
Spuren persönlicher „Handfchrift" wird verzichtek, die glatte Bildhaut gesucht.
Bom Schaffensprozeß soll im fertigen Bild nichts mehr dentlich scin, und mit

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