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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 15.1972

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Nr. 1
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Patzer, Harald: Aktuelle Bildungsziele und altsprachlicher Unterricht: Vortrag gehalten Reinhardswaldschule 4.10.71
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https://doi.org/10.11588/diglit.33065#0004

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gerichteten Typen, zu wenig an Mathematik, Natur- und Gesellschaftswissenschaf-
ten bieten. Die Sprachen würden zu sehr von der Grammatik her gelernt und
zu sehr mit dem Ziel des Verständnisses von Literatur, besonders der klassischen.
Mathematik und Naturwissenschaften würden zu sehr als reine Theorie be-
handelt und ohne angemessene Rücksicht auf ihre praktische Anwendung. Dem
liegt offenkundig eine Bildungsidee zugrunde, die älterer Herkunft ist und deren
Angemessenheit für unsere moderne Welt fragwürdig geworden ist, nämlich die
des Neuhumanismus. Nach ihr gilt es, den Menschen zum Menschen zu bilden.
Versteht man diese Formel so allgemein, daß alle dem Menschen eigentümlich
gegebenen Vermögen auszubilden seien, so wäre an ihr auch für unsere Gegen-
wart nichts auszusetzen, es sei denn, daß diese Formel in dieser Allgemeinheit
unbrauchbar ist, weil es in dem Bereich aller humanen Vermögen immer Priori-
täten geben wird, die in einem gegebenen Zustand der menschlichen Entwicklung
besonders gefordert sind und deren Verwirklichung auch möglich sein muß. Der
Neuhumanismus drang vor allem auf die Pflege des Sprachvermögens als Aus-
druck der individuellen Person, des ästhetischen Vermögens und der reinen
Theorie. Ihm war der Idealismus in die Wiege gelegt. Diese Schwerpunkte waren
allerdings zeitbedingt und datieren die neuhumanistische Bildungsidee noch vor
die industrielle Revolution. Sie setzt eine erhebliche Freiheit des individuellen
Lebens und der Möglichkeit seiner Selbstgestaltung voraus, vor allem gesehen
von den späteren Erfahrungen, in der Form einer erheblichen verfügbaren Muße,
die wieder wirtschaftliche Unabhängikeit voraussetzt. Obwohl die neuhuma-
nistische Bildungsidee im Anspruch eine für jeden wünschbare Bildung meinte,
war diese tatsächlich doch nur eine Bildung für eine elitäre Schicht, den Adel
und das wohlhabende Bürgertum. Das mit ihr gemeinte Individuum ist als
wesentlich berufslos verstanden. Aber der außerordentliche Fortschritt der In-
dustrialisierung hat heute längst zu einem Zustand geführt, in dem es eine solche
berufslose Elite nicht mehr gibt. Weiter ist mit dieser Entwicklung verbunden,
daß die elementare Lebensversorgung aller einen unerhörten Gewichtszuwachs
erhalten hat. Der Neuhumanismus hatte noch keinen rechten Anlaß, diese Seite
des Humanen (denn das ist sie) zu berücksichtigen. Er war also idealistisch,
d. h. ihm haftete von Hause aus der Gegensatz von ,Bildung' und ,Lebensnot'
(Nietzsche) an. Die mit der fortschreitenden Industrialisierung immer gewich-
tiger werdende Welt der Technik, der Produktion, der Arbeit wurde daher
immer zu einer Gegenwelt des Niederen, nicht eigentlich Humanen, vielleicht
sogar Unhumanen. Die neuhumanistische Bildungsidee hat sich also nicht in
dem Sinne verändert, daß sie die neuen, mit der Industrialisierung dringlich
werdenden Lebensaufgaben als humane in sich aufgenommen hat. Aber die
Faszination und das humanitäre Pathos dieser Geistesbewegung war so stark,
daß sie eine bis heute mächtige Tradition geblieben ist, die unser höheres Schul-
wesen noch immer maßgebend bestimmt. Wenn auch dieses immer mehr ,Realis-
mus' in sich einließ, so doch immer nur mit der (meist unterbewußten) Wert-
note des (leider) Unvermeidlichen, aber doch gegenüber der eigentlichen, der
,höheren' Bildung Dienenden, wenn nicht Geringeren. Damit ist in der Tat
(wenn auch meist versteckt) in unserem Schulwesen eine Reserve, wenn nicht
Feindschaft, gegen unsere moderne Welt enthalten.

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