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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 15.1972

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Nr. 1
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Gaul, Dieter: Die neue Schule und die alten Sprachen
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https://doi.org/10.11588/diglit.33065#0018

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Sprache erkannt hat, sich leichter gegenüber sprachlicher Manipulation zur Wehr
setzen kann. Fügt er der Erkenntnis noch aktive Beherrschung des Instrumen-
tariums hinzu, kann ihm Selbstbehauptung nicht schwerfallen. Es besteht nun
Grund zu der Annahme - ich muß mich so vorsichtig ausdrücken, weil mir Be-
weise im streng wissenschaftlichen Sinne nicht bekannt sind daß die Kon-
frontation mit den alten Sprachen besonders geeignet ist, die Reflexion auf
Sprache unter bestimmten methodischen Bedingungen zu fördern. Unter Re-
flexion auf Sprache verstehe ich die Einsicht in die Leistungen sprachlicher Struk-
turen für die Redeabsicht.
1. Latein: Die syntaktische Struktur des Lateinischen und sein Flexionssystem
eignen sich (wie noch in exakter Forschung detailliert erwiesen werden müßte)
in besonderem Maße für die Aktivierung des Sprachdenkens. Es besitzt einen
hohen Grad von Abstraktheit. Die äußerste Knappheit des Systems zwingt den
Lernenden, seine ganze Beobachtungsgabe und seine volle Aufmerksamkeit ein-
zusetzen, um angesichts der Knappheit des Codes die gemeinte Information zu
entschlüsseln und die notwendigen Sinnbezüge herzustellen. Latein erfordert
daneben besonders häufig die für das Sprachdenken so wichtige Ablösung des
Gemeinten (des Sinnes) von der Sprachstruktur durch ständiges Flinzuziehen
des Kontextes (der Situation). Es teilt dadurch dem Schüler seine Dynamik mit
und fordert ständig dessen Denk- und Sprechfähigkeit heraus, und im Fordern,
so hoffen wir, fördert es.
Von eminenter Bedeutung ist dabei die Methode. Soll der Schüler in reflek-
tierender Sprachbetrachtung, die sich ja zugleich stets kontrastiv zur Mutter-
sprache hinwendet, Distanz zur Sprache und damit auch zu der von Sprache
umgriffenen Welt gewinnen, muß der Unterricht so aufgebaut sein, daß er zu den
anfallenden Erkenntnissen selbständig gelangen kann. Der Begriff Induktion
allein genügt nicht. Wir müssen dem Schüler von Anfang an konkrete Hilfs-
mittel zur Hand geben, mit denen er die vorliegende Information eigenhändig
entschlüsseln kann. Er bekommt also möglichst früh code-analysierende Ele-
mente wie, Phoneme, Morpheme, aber auch sprachgeschichtliche Begriffe wie
Ablaut, Vokalschwächung, Assimilation, Dentalschwund etc. mitgeliefert. Da-
mit muß eine gewisse Vereinheitlichung des Stoffes einhergehen, die im Bereich
der Syntax radikal von den Grundbedeutungen ausgeht, um erst danach erwei-
terte Bedeutungen erkennen zu lassen. Die Schwerpunkte des Kurses liegen
unserem didaktischen Ziel der Sprachbewußtheit entsprechend dort, wo wesent-
liche Einsichten zu gewinnen sind: bei der Kasuslehre, den Partizipialkonstruk-
tionen, dem Gebrauch der Tempora und Modi, um nur das Wichtigste zu nen-
nen. Das ist alles nicht neu, wird aber in der Praxis m. E. noch nicht konsequent
genug durchgeführt. Der Darbietung des ,Stoffes1 derart, daß er vom Lernstoff
zum Denk- und Sprechstoff wird, kommen einige neuere Lehrbücher erfreulich
weit entgegen. Andererseits dürfte die geforderte Epoche, die die Erarbeitung
des neuen Materials und die Formulierung der an ihm gewonnenen Erkenntnisse
den Schülern überlassen soll, den meisten von uns noch überaus schwerfallen.
Aus dem Gesagten ergibt sich eine erhebliche Aufwertung des Sprachunter-
richts. Er ist jetzt nicht mehr bloße Vorbereitung auf die letztlich angestrebte
Lektüre, sondern erhält einen wichtigen Eigenwert. (Eine lernpsychologische

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