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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 15.1972

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Nr. 1
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Nickel, Rainer: Die achtundsechzig Göttinger Thesen zur Didaktik des altsprachlichen Unterrichts
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https://doi.org/10.11588/diglit.33065#0026

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rischem Scharfsinn die „unterschwellige Erziehung zur Demokratie in Übungssätzen
wie auch versteckte humanistische Bildungsziele und -werte in Lesestücken“ (These
IV 3) zu entlarven und auf diese Weise die Schuld an der einseitigen Verbürgerlichung
der Schule wiedergutzumachen. Reumütig übt er Selbstkritik: Hat doch das gesellschafts-
feindliche humanistische Gymnasium „durch seinen Bildungsaristokratismus bis in die
heutige Zeit hinein ein Elitedenken gefördert, das durch Ausklammerung sozialer und
wirtschaftlicher Aspekte die bestehende Schulordnung abstützt“ (These III 9). Der ver-
gesellschaftete altsprachliche Unterricht gewährleistet endlich Objektivität in der Aus-
wahl der Bildungsinhalte, weil diese von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt
wird. Damit ist sichergestellt, daß nur noch pädagogisch relevante Inhalte im Lehrplan
erscheinen, was die gesellschaftliche Effektivität von Bildung und Unterricht garantiert.
Ohne die Progressivität dieser Gedanken anzweifeln zu wollen, fragt sich der naive
Leser der achtundsechzig Thesen, ob er ihre Tragweite recht verstanden hat. Wer Thesen
aufstellt, will Diskussion, und wer Diskussion will, wird auch bereit sein, Fragen zu
beantworten. So könnte man unter Umständen noch folgendes wissen wollen:
1. Wo findet der praktizierende Lehrer seine Auftraggeberin, die Gesellschaft? (Wer
Heinz-Joachim Heydorns Artikel „Gegen eine neue Generation von Sklaven“ in der
Frankfurter Rundschau vom 20. 2. 1971 (Feuilleton) gelesen hat, kann sich dem Glau-
ben an die Weisungsbefugnis der Gesellschaft in heutigen Bildungstheorien nicht mehr
unbefangen anschließen. Denn der Begriff des sogenannten gesellschaftlichen Bedürf-
nisses und seine Erhebung zum Absolutum, an dessen Verbindlichkeit nicht gezweifelt
werden darf, ist das in Wahrheit reaktionäre Bildungsphänomen unserer Zeit, weil es
das Individuum nicht emanzipiert, sondern zum Sklaven macht. Heydorn sieht als
Ausweg eine antifunktionelle Bildung um des Menschen willen, die sich nicht wider-
spruchslos in die blinde Gesetzlichkeit des gesellschaftlichen Prozesses auflösen läßt.)
2. Wo ist ihre Legitimation für ihre Rolle als Auftraggeberin?
3. Wie läßt es die Gesellschaft ihren Diener wissen, ob er seinen Auftrag gut oder
schlecht ausgeführt hat?
4. Woher weiß der Lehrer, ob sein Unterricht im Sinne seiner Auftraggeberin kri-
tisch und objektiv ist?
5. Was ist Wirklichkeit und Objektivität „in einer sich ständig verändernden Welt“?
6. Warum dürfen Erziehungsziele nicht „von allgemein gültigen Werten her“ be-
stimmt werden?
7. Warum hat das Lateinische „keinen berechtigten Platz mehr in der Schule“, wenn
es nicht dazu beiträgt, „Sprachschwierigkeiten . . . und damit Sprachbarrieren bestimm-
ter Schichten abbauen zu helfen“? (Ist dies wirklich die einzige Funktion eines gesell-
schaftsbewußten Lateinunterrichts?)
8. Hat der altsprachliche Unterricht tatsächlich „recht wenig zur Kritikfähigkeit
erzogen, weil er von der augenblicklichen Wirklichkeit ablenkt“?
9. Aus welchem Grund sind „humanistische Ideale, wie die Bildung des einzelnen
Menschen um seiner selbst willen, . . . der Glaube an das Wahre, Gute und Schöne“
eigentlich „illusionäre Bildungsziele“?
10. Sind diese „Ideale“, selbst wenn sie zur Zeit an der gesellschaftlichen Wirklichkeit
vorbeizusehen scheinen, ersatzlos aufzugeben?
Das sind einige Fragen, die den Aufgeklärten ob ihrer Naivität erschüttern mögen.
Doch habe er Verständnis für den Fragenden. Wer fragt, will lernen.
Eine letzte Bemerkung: Dem Unaufgeklärten erscheinen die achtundsechzig Göttin-
ger Thesen weitaus weniger genießbar als die berühmten Göttinger Würste. Anachroni-
stische und darüber hinaus noch schwer verständliche Behauptungen und Anschuldigun-
gen können kein Beitrag zu einer Didaktik des altsprachlichen Unterrichts sein. Der Stil
einer Kapuzinerpredigt will nicht zu dem dringend notwendigen sprachlichen Gespräch
über die Zukunft der alten Sprachen in der Schule passen. Rainer Nickel

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