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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 25.1982

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Nr. 4
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Barié, Paul: Aut Caesar aut nihil?: 10 Thesen zur Dominanz des Bellum Gallicum auf der Mittelstufe
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https://doi.org/10.11588/diglit.33081#0070

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— wogegen auch zunächst nichts einzuwenden wäre —, realisieren aber gar nicht
mehr, worum es geht; ihre psychische Energie ist auch durch das Bemühen, zu
dekodieren und angemessen zu übersetzen soweit aufgebraucht, daß die Inhalts-
seite belanglos wird.
8. Der ererbte lateinische Lektürekanon ist weder Zufallsprodukt noch spon-
taner oder auch reflektierter Akt philologischer und pädagogischer Überlegun-
gen, er ist immer auch Ausdruck einer Epoche und ihrer Ideologie, und so ist es
auch kein Zufall, daß die Dominanz der Caesarlektüre in Lehrplänen und Schul-
praxis offensichtlich in die Gründerzeit fällt. Schon daraus ergibt sich eine Re-
lativierung des Anspruchs, wonach Caesar — möglicherweise einzige — verbind-
liche Mittelstufenlektüre sein soll4.
Die Gegenthese lautet, daß Caesar nicht obligatorisch sein kann und daß,
wenn man ihn liest, wofür Gründe sprechen, die Lektüre eingebunden sein muß
in andere Themen, Autoren, Textsorten; sind wir tatsächlich so arm an Mittel-
stufentexten, daß uns gar nichts anderes übrig bleibt, als immer wieder zum
Bellum Gallicum zu regredieren?
9. Solange Caesar unangefochtene Ziellektüre bleibt, solange also sein langer
und bedeutender Schatten auf dem Lateinunterricht lastet, werden die Übungs-
bücher weiterhin und immer wieder Caesarwortschatz, Caesarsyntax, caesarische
Inhalte und aus Caesar extrahierte Gemeinplätze vermitteln; diese verengte Per-
spektive prägt dann den ganzen Lateinunterricht und schafft ungünstige Vorbe-
dingungen für andere, reichere und humanere Wortschätze und Textsorten;
eine Sensibilisierung für literarische, poetische, seelische Vorgänge, für Fikti-
onalität und Phantasie, aber auch für ein differenziertes politisches Bild der Wirk-
lichkeit, wird dadurch blockiert oder zumindest eingeschränkt, was sich umso
verheerender auswirkt, als nur noch wenige Schüler sieben oder neun Jahre
Latein betreiben, die Frühprägung durch das Bellum Gallicum also keine Kor-
rektur mehr erfährt durch Autoren vom Range eines Vergil oder Horaz, eines
Seneca oder Tacitus. Wortschatz und Idiomatik werden sich also immer wieder
um fuga salutem petere, manus conserere, victoriam parere drehen; daß parere
gebären heißt und parentes nicht die, die den Sieg erringen, sondern die Eltern,
tritt in den Hintergrund. Man überprüfe die Wortlisten namhafter Übungsbücher
auf „Leerstellen“! Man wird erstaunliche Entdeckungen machen und sich nicht
mehr wundern, wenn Schülern die Wortgruppe copiis coactis geläufig ist, das
Cogito ergo sum aber nicht nur inhaltliche, sondern auch lexikalische Schwie-
rigkeiten bereitet.
10. Fazit: Es geht nicht darum, die Caesarlektüre, deren historischer, politischer
und literarischer Wert unbestritten ist, zu desavouieren, sondern die dominie-
rende und häufig exklusive Rolle, die sie vor allem für die Lateinlehrer hat, ein-
4 Man kann auch mit Caesar gegen das Bellum Gallicum argumentieren: Vgl. E. Küppers,
Caesar als Alternative zu Caesar, AU XXV 4, 5 3 ff.

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