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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0030

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11 Gewalt als Begriff

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Verletzung klerikaler Privilegien bedeutet. Johann Ohnefurcht etwa beauf-
tragte 1415 seinen Sohn Philipp, damals Graf von Charolais, die Kanoniker
des Stiftes St. Gery in Cambrai vor „jeglicher Bedrückung und Gewalt" (ioMies
oppressioMS ei ozoienees^) zu schützen, da die Kanoniker sich beim burgundi-
schen Herzog beschwert hatten, dass das Stift bei der Erneuerung der Stadt-
befestigung beschädigt worden sei. Auch der Einbruch des Schatzmeisters
der Normandie in das bischöfliche Gefängnis in Rouen 1374 (fzif^zi do^zzzi oi de
ybzve rozzzpro ies przsons^), um einen Gefangenen in seine Gewalt zu bringen,
wird als gewaltsame, unrechtmäßige Verletzung kirchlicher Rechte (ozoionco d
i ospzrziMziMid dM dzi zzrcdooos^MO^) gesehen.
Zusammenfassend können drei Bedeutungsbereiche der mittelfrauzösi-
schen Begriffe Jbrce, pMZSSzzMCo/poMUOzr und ozoloMCC ausgemacht werden. Der
erste beschreibt einen mehr oder weniger abstrakten Bereich der Macht und
Stärke (von abstrakter, persönlicher Macht und einem räumlich definierten
Herrschaftsgebiet über militärische Schlagkraft bis hin zu konkreter Truppen-
stärke), wobei die Begriffe^brco, pMZSSziMCO und poMUOzr neutral konnotiert sind.
Positiv konnotiert kann ybrce in einzelnen Fällen auch ritterlichen Mut als
persönliche Eigenschaft beschreiben. Der zweite Bereich thematisiert deutlich
stärker direkte physische Gewaltausübung (z. B. durch Waffen, Folter oder
Heere), die mit Jbrce und ozoloMCC ausgedrückt werden kann. Während Jbrce
keine spezifische Konnotation aufweist, ist ozoloMCC deutlich negativ gefärbt
und wird im juristischen Sinn als strafbare ,Gewalttat' verstanden. Direkt
daran schließt sich drittens die Bedeutung von ozoloMCC als Unrecht (im Ge-
gensatz zu jMsfzco) an, das nicht zwangsweise gewaltsamen Charakter hat,
sondern auch in Rechtsverletzungen (insbesondere gegenüber Klerikern)
besteht.^
Gleicht man diesen Befund mit unserem heutigen Verständnis ab, findet
man zwar grob dieselben Bedeutungsnuancen von abstrakter Macht, Herr-
schaftsmitteln und ungerechter Zwangsausübung - ein gewichtiger Unter-
schied wird dennoch deutlich: Ein klar abgegrenztes Verständnis von Gewalt
als unrechtmäßige physische Kraftausübung mit Zwangscharakter (dt. Ge-
walt', engl./frz. ozoloMCo) ist im Spätmittelalter nicht bekannt.^ Körperliche

53 Monstrelet, Chronique, Bd. 3, S. 87.
54 Chronique des quatre premiers Valois, S. 249.
55 Ebd., S. 249. Weitere Beispiele: Ebd., S. 38 und 243; Froissart, Chroniques (liv. I & II), S. 605
(1,293); Monstrelet, Chronique, Bd. 5, S. 433.
55 Insofern ist die Eingrenzung bei Loetz, Sexualisierte Gewalt, S. 9, Anm. 1, sie verstehe unter
,Gewalt' „nicht legitime Formen der Gewaltausübung (poZcsZas)", sondern „Verhaltensformen
(uZoZcMÜH), die gesellschaftlich abgelehnt werden" etwas irreführend, da sie die physische
Dimension beider Begriffe einfach voraussetzt.
5" Gauvard, Violence lidte, S. 89. Brown stellt seiner Studie über „Violence in medieval Europe"
dieselbe Beobachtung als These voran, argumentiert in seiner Begründung aber anhand von
Verben (ocd&rc, UM/Mcrc, pcrcMtcrc etc.): Mittelalterliche Quellen haben Handlungen, die wir
unter dem Begriff Gewalt fassen würden, durch verbale Formen ausgedrückt, die die jeweilige
Handlung eindeutiger charakterisierten. Das Ausweichen auf Verben bezüglich der Definition
scheint für die Klärung eines Konzeptbegriffes allerdings nicht weiterführend, da die Frage
nach ,Gewalt' auf die übergeordnete Wahrnehmung verschiedener Handlungen zielt. Den Be-
 
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