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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0365

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364

VI Vertiefungen

Chastellain bewusst ausschmückte und dramatisierte.^ Damit ist Jean Vilain
weniger ein Sinnbild für die allgemeine Brutalität der Krieger oder eine Bana-
lisierung der kriegerischen Gewalt,^ sondern ein bewusst konstruiertes Sym-
bol fremdartiger Gewalttätigkeit, der man sowohl mit Achtung als auch mit
einer gehörigen Portion Abscheu begegnete. Die körperliche Überlegenheit
des Flamen führte zu kämpferischer Dominanz, war aber gleichzeitig nah am
Monströsen und Teuflischen.
Die Verformung ging jedoch noch weiter: Während Monstrelet nur von
dem „guten Pferd" des flämischen Ritters sprach, wurden Tier und Reiter bei
Chastellain zu einer Einheit: beide von enormer Statur, in einem Bewegungs-
ablauf miteinander verbunden und durch Schaum vor dem Mund als wahn-
haft gekennzeichnet. Die Wildheit Jean Vilains ist der Entmenschlichung nahe
und doch sind es er und die Seinen, die für Burgund den Sieg erringen.^ Es
ist diese körperlich und taktisch bedingte Effektivität, die den Flamen sowohl
bei Monstrelet als auch bei Chastellain zu einem effektiven Krieger macht,
dessen fremdartiges Wüten jedoch gleichermaßen erstaunt wie entsetzt beo-
bachtet wurde.
Die hier detaillierter vorgeführte Episode Chastellains ist in ihrer sprachli-
chen Zuspitzung in den Quellen des spätmittelalterlichen Frankreich vermut-
lich singulär. Sowohl das Bild des Schlachters als auch die Bewunderung
schierer körperlicher Kraft lassen sich jedoch häufiger fassen und weisen auf
die ambivalente Bedeutung hin, die physische Kraft für die kriegerische Elite
der Gesellschaft hatte.

212 Verwundung und Verstümmelung
Zur literarischen Stilisierung eines heldenhaften Kriegers gehört immer auch
die physische Fähigkeit, seine Gegner in Stücke zu hauen. Geoffroi de Charny
tat genau dies, als im Gedränge der Schlacht von Poitiers 1356 ein englischer
Ritter das Pferd Königs an den Zügeln hielt: Die C/zrondjuc des pMMfre premzers
Vdlois berichtet, wie Geoffroi „derart wütend darüber wurde, dass man so
Hand an den nobelsten König der Welt lege"^, dass er den Gegner direkt vor
dem König nieder streckte. Der Griff an die Zügel des königlichen Pferdes war
eine symbolische Grenzüberschreitung, welche die Chronik hier als Auslöser
für die exemplarische Vorführung von Geoffrois Tapferkeit und Stärke nutz-
te. Eine ähnliche anmaßende Nähegeste beging der Pariser Henker Capeluche

11 Vgl. dazu Monstrelet, Chronique, Bd. 4, S. 62f., der den Auftritt Jean Vilains mit ähnlicher
Tendenz, jedoch deutlich kürzer als Chastellain schildert.
12 So Schmitt, Chroniqueurs, S. 108.
13 Der Bericht Chastellains schließt mit den Worten: BreifOHf/Hf wds g dcscen/dgrc det'CMf hu/, ee (?Mi
sc froMUod, cf lg ulefolre poMr SOM pgrfi/ pgr /Mi cf pgr gMfrcs. Chastellain, Oeuvres, Bd. 1, S. 270.
ii Bf donc ulnf MMg Angioiz A^re g f'cucs^MC de Mcolle le^Mel prinsf fe roi/ JedgM pgr leA^lM. Tors woMsel-
gweMr GMAAoi/ de Cdgrm/, (?Mi de ce o:df grgnf i/re (?Me gM plMS Molde roi/ dM moMde d guod wls lg wglM,
sl A^l le dd AMglols d'MMe dgsede de fei uerfM (?Me d pgr deugMf le roi/ l'gdgfl morf g:n* plez dM roi/.
Chronique des quatre premiers Valois, S. 55.
 
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