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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0279

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31 Formen interpersoneller Gewalt

Im Bemühen, die Frage nach der Gewalttätigkeit des Mittelalters zu beant-
worten, wurden in der historischen Forschung auch quantitative Methoden
aus den Sozialwissenschaften angewandt. Dabei werden Mordraten als ob-
jektives' und zudem vergleichbares Kriterium der Gewaltpräsenz in einer
Gesellschaft angesehen: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommen in Kolum-
bien pro Jahr 85 Morde auf 100 000 Einwohner, in Russland 25, in den USA
zehn und in Deutschland einer 2 Für Warwickshire im Jahr 1232 errechnete
Given-Wilson eine Mordrate von 47, in Norfolk soll sie dagegen nur bei neun
gelegen habend War also das Leben im Norfolk des 13. Jahrhunderts unge-
fähr so gefährlich (beziehungsweise so sicher), wie in den heutigen USA? Die
methodischen Probleme liegen auf der Hand und wurden vielerorts disku-
tiert, angefangen von den unsicheren Bevölkerungszahlen als Ausgangsda-
ten, über das Problem der schriftlichen Erfassung von Morden bis hin zur
Frage, was in welcher Gesellschaft überhaupt als ,Mord' angesehen und kri-
minalisiert wurdet Gerade der letzte Punkt ist für unsere Fragestellung von
besonderem Interesse.

Kriminalität und Gewalt im Alltag
Für das spätmittelalterliche Frankreich liegen mehrere Einzelstudien vor, die
unter sozialgeschichtlichen Aspekten der Frage der Alltagskriminalität unter-
sucht haben. Zu nennen sind hier vor allem die Studien von Bronislaw Ge-
remek über die Lebensbedingungen verschiedener sozialer Randgruppen im
Paris des 14. und 15. Jahrhunderts, Jacques Chiffoleaus Analysen der päpstli-
chen Rechtsprechung in Avignon im 14. Jahrhundert, der Blick Robert
Muchembleds auf das Artois (15.-17. Jahrhundert), die Auswertung der Re-
gister des Pariser ParLmetü durch Claude Gauvard (14.-15. Jahrhundert),
sowie jüngst die Untersuchung der Alltagsgewalt in Nordfrankreich durch
Skoda (1270-1330)3
Grundsätzlich stehen derartige quantitative Analysen vor dem Problem,
nur auf die überlieferten Quellen zurückgreifen zu können. Die in Tab. 1 ge-

' Bauer, Schmerzgrenze, S. 114f., leicht abweichende Zahlen bei Brown, Violence, S. 3-5: Russ-
land 22,1; USA 5,6; EU 1,6 (je 1999-2011). Zum Konzept der Kriminalität' im Mittelalter siehe
auch Kolmer, Öffentlichkeit.
2 Given, Society, S. 35-40.
^ Brown, Violence, S. 3-5; Nassiet, Violence, S. 5-12; Muchembled, Histoire, S. 35f.; Carroll,
Blood, S. 257-263; Schuster, Stadt, S. 21-26 und 61-72; Miller, Humiliation, S. 91, sowie Gau-
vard, Sources und Schwerhof, Gewaltkriminalität. Zur Bestrafung von Morden siehe Carbasse,
Homines, vor allem S. 172 und 180.
^ Geremek, Marginaux; Chiffoleau, Les justices; Chiffoleau, Violence; Muchembled, Violence;
Gauvard, Grace especial; Skoda, Medieval violence. Für die Frühe Neuzeit wäre noch hinzuzu-
fügen: Nassiet, Violence.
 
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