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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0257

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256

IVI Problematisierungen

wütend gewesen, denn er habe den hochrangigen Gefangenen als Unterpfand
in den erwarteten Verhandlungen mit dem Dauphin einsetzen wollend^
Auch Michel Pintoin dachte angesichts des Massakers unter anderem daran,
dass man von den Gefangenen hohe Subsidien für den Krieg gegen England
hätte bekommen könnenW Die Hoffnung der Pariser, dass die in der bur-
gundischen Propaganda als ,Verräter' dargestellten Armagnacs nun bestraft
würden, musste bei derartigen Überlegungen enttäuscht werden. Gleichzeitig
stachelten Gerüchte um ihre Freilassung und Bewaffnung, sogar um die
Rückeroberung der Stadt durch die Truppen des Dauphins die Ängste der
Pariser an. Die Angst wuchs, dass die nunmehr inhaftierten Verräter freige-
lassen werden und damit ihrer Strafe entgehen könnten. Daher entlud sich
die Gewalt nicht unmittelbar bei der Ankunft der Bourguignons in Paris,
sondern erst mehrere Woche später - und keineswegs ziellos, so dass Au-
trand und Minois von den Toten zu Recht als „Opfer politischer Morde"
sprechen.^" Vor dem Hintergrund der Beschwerde, dass die ,Verräter' bisher
nicht bestraft worden seien, erscheint ihre kollektive Tötung also (erneut) als
stellvertretende Ausübung der Gerichtsgewalt durch das Volk, weil die ei-
gentliche Obrigkeit sich in dessen Augen als untätig erwiesA"
Die besondere Brutalität der Massaker lässt sich nach Randall Collins
durch eine Mischung aus Angst und Anspannung erklären, die sich gewalt-
sam Bahn brach A'^ Pintoins Hinweis, dass Capeluche mit besonderer Grau-
samkeit vor ging, um die Menge zu ebensolchen Taten anzutreiben, mag pri-
mär auf die bewusst negative Charakterisierung des Henkers zielen.^ Letzt-
lich deckt sich dessen Beschreibung ebenfalls mit Collins' Ergebnissen, nach
denen bei kollektiven Gewalttaten einige wenige die Spitze der Handlungs-
träger bilden, dabei aber eine größere Menge hinter sich wissenA'^ Symboli-
sche Schändungen nach einer auf diese Weise ausgeführten Gewalttat (hier
etwa die Verstümmelung des Grafen von Armagnac) boten schließlich einer

Monstrelet, Chronique, Bd. 3, S. 272; [Chronique dite des Cordeliers], S. 260. Der Bourgeois
notiert für August 1418 die Sorge der Pariser, die Gefangenen könnten für ein Lösegeld frei ge-
lassen werden, Journal d'un Bourgeois, S. 127 (§221). Zur Praxis, Gefangene als Verhand-
lungsmasse einzusetzen siehe Ambühl, Prisoners, S. 14.
Chronique du Religieux, Bd. 6, S. 250.
200 Minois, Couteau, S. 64, mit Verweis auf Autrand, Charles VI, S. 560. Unter den Toten befanden
sich Graf Bernard von Armagnac, der Bischof von Lisieux und Kanzler Pierre Fresnel, der
coMSÜBcr HM pHrUmcMf Robert Houel, die Sekretäre Gontier Col und Jean de Montreuil, die Ann-
gCMrs und /AnnAcrs Pierre de Lesclat, Vitry, Poupart, Tarenne, Baillet und Gencien sowie der
HÜ prcuöf Robert de Tuilieres.
201 Nach Smelser, Theory, S. 59-61, führte eher der Verfall einer normativen Ordnung zu Gewalt-
ausbrüchen, weniger deren Wahrnehmung als ungerecht oder hart. Verweis bei Ross, Anger,
S. 455.
202 Collins, Dynamik, S. 143-145; siehe auch Stölting, Gewalt, S. 64—69, zur Ekstase der Massener-
fahrung.
203 Nach Pintoin habe Capeluche eine adlige Dame entkleidet und sie dann vor aller Augen ge-
köpft, Chronique du Religieux, Bd. 6, S. 264.
204 Collins, Dynamik, S. 558-627.
 
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