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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0278

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21 Formen kollektiver Gewalt

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ten, wurden die Tnduns und Bngands zunehmend diffamiert. Letztlich wur-
den sie seitens der Obrigkeit kriminalisiert, indem ihre Handlungen schlicht
als (verbotene) Plünderungen' bezeichnet wurden.
(2) Zum anderen war aus Sicht der Bevölkerung - und dies verbindet städ-
tische und ländliche Aufstände - der Rekurs auf die Gewalt ein als legitim
oder zumindest als unausweichlich angesehenes Mittel des Protests oder der
Selbsthilfe. Eine Analyse der Aufstandshandlungen ergibt, dass zumeist nicht
planlos geplündert und gemordet wurde, sondern dass Aufständische sich als
,Korrektiv' der Obrigkeit beziehungsweise der Justiz sahen. In ritualisierten
Formen ging man gegen genau die Vertreter der Obrigkeit vor, die man für
bestimmte Missstände verantwortlich machte. Zumindest in ihren Augen
handelten die Aufständischen im Interesse des Königs, wenn sie vermeintli-
che ,Verräter' hinrichteten. Zeichen dieser auf den König bezogenen, stellver-
tretenden Justiz war einerseits die Imitation obrigkeitlicher Strafriten durch
die Aufständischen und andererseits das Bemühen, das Einverständnis des
Königs zu erlangen.
Diese Mechanismen sind selbst bei der entgrenzten Gewaltausübung im
Bürgerkrieg, etwa bei den Pariser Massakern von 1418 zu erkennen. Die Pari-
ser überkam kein spontaner ,Blutrausch', sondern sie fürchteten, dass diejeni-
gen, die sie für den schlechten Zustand des Reichs verantwortlich machten,
straflos bleiben könnten. Um ihre Rechtsvorstellungen durchzusetzen, schritt
die Bevölkerung gewaltsam ein. Die dauerhafte propagandistische Herab-
würdigung des Bürgerkriegsgegners bis hin zur Entmenschlichung hatte ein
derart radikales Vorgehen zwar nicht gezielt vorbereitet, aber doch wahr-
scheinlicher gemacht.
Auf der Ebene historiographischer Beschreibungen wiederum konnten die
Gewalttaten von 1418 sowohl als Reinigung der Stadt von Verbrechern dar-
gestellt werden, als auch als Grausamkeit, welche die Pariser Bevölkerung
,beschmutzte'. Während pro-königliche/armagnakische Chronisten wie Mi-
chel Pintoin oder Jean Juvenal die Grausamkeit des Massakers betonten, stili-
sierte es der BoMrgeois zur Notwehr, deren Radikalität der (geplanten) Gewalt
der Gegner nur zuvorkam und sie gleichsam auf sie zurückprojizierte. Der
BoMrgeois verschwieg das Massaker an den Armagnacs nicht, hielt aber zum
einen deren Opfer im Dunkel der Anonymität und verschleierte zum anderen
die Frage der Verantwortung durch das Stilmittel der Allegorie. Michel Pinto-
in dagegen hob das Leid individueller Opfer hervor und grenzte die Pariser
durch explizite Vergleiche als ,barbarisch' aus der christlichen Gemeinschaft
aus. Signifikant ist, dass in beiden Fällen die Gewalt keineswegs geleugnet
oder verschwiegen werden musste, sondern sowohl positiv als auch negativ
interpretiert werden konnte.
 
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