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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0284

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31 Formen interpersoneller Gewalt

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stimmten Muster, konnte auch sie als gelten, der auf Akzeptanz statt
auf Verdammung stieß: Rache (die begnadigt wurde) wurde offen und mit
Ankündigung ausgetragen und richtete sich nicht gegen Verwandte. Die Rä-
chenden zeigten ihre Waffen (hier eben nicht das Brotmesser!) offen, auch der
Körper des Racheopfers wurde keineswegs verstümmelt oder nach der Tat
versteckt: Es ging nicht primär um die physische Vernichtung des Gegners,
sondern um die Behauptung der eigenen Ehre und Identität - und dies erfor-
derte zumeist eine zeitnahe und öffentliche Reaktion. Die folgende Flucht des
Rächenden vor der „Strenge der Justiz" (wie es in den Begnadigungsbriefen
oft heißt) verhinderte dann häufig eine unmittelbare Gegenreaktion der Ver-
wandten des OpfersA
Interpersonelle Gewalt wurde zumeist dann begnadigt, wenn sie einerseits
öffentlich begangen wurde und andererseits allgemein akzeptierte Werte
durch sie verteidigt wurden, wobei die Ehre zweifellos die größte Rolle spiel-
tet Die Obrigkeit gab durch ihre Begnadigungspraxis zu verstehen, dass sie
trotz des generellen TötungsVerbots mit breiten Bevölkerungsschichten ein
Wertesystem teilte, das Tötungen aus Rache oder wegen Ehrverletzungen als
legitim anerkannte oder zumindest akzeptierte. In dem Maß, in dem Ehre
ein geteilter Wert war, war Gewalt ein geläufiges und akzeptiertes Mittel zu
ihrer Behauptung.
Die sogenannten u/Tnn ras bildeten das Gegenbild zur öffentlichen und ak-
zeptierten Affekt- oder RachetatA Nach der Definition Philippes de Beauma-
noir war es deutlich verwerflicher, jemanden nachts, heimlich und hinter-
rücks zu töten, als dies als spontane Reaktion auf eine Beleidigung oder Ehr-
verletzung zu tun. Anders ausgedrückt: Ehrverletzungen wurden nicht im
Nachhinein und heimlich gerächt, sondern unmittelbar und öffentlich. Ent-
sprechend wurde ein Angriff in der Dunkelheit und aus dem Hinterhalt mit
niederen Motiven assoziiert und galt wegen der Asymmetrie zwischen auf-
lauerndem Täter und ungewarntem Opfer als inakzeptabel.
Zusammen mit derartigen heimtückischen Morden (mcMrdr) bilden Ver-
gewaltigung, Brandstiftung und das Brechen von beschworenen Sicherheits-
garantien als „unverzeihliche Verbrechen" eine aus heutiger Sicht ungleiche
Reihe. Dieser Eindruck wird durch die Rechtspraxis noch verstärkt: Während
Morde und Tötungen von offiziellen Amtsträgern in der Kanzlei begnadigt
werden konnten, musste bei Verbrechen gegen Sitten und Moral sowie bei
Eidbrüchen der König selbst tätig werden. Nach der Analyse Gauvards wur-
den Blasphemie und Sakrilege nur selten begnadigt und falls doch, dann
rechtfertigen die Petenten ihre Tat ungewöhnlich ausführlich und detaillierte
Taten, die in Bezug zu Heiligen oder zur Religion standen, scheinen also
schwerer gewogen zu haben, als individuelle Tötungen. Diese wurden vor

29 Ebd., S. 772-776.
20 Gauvard, Violence lidte, S. 103f.; Gauvard, Violence et ordre public, S. 60f.
Gauvard, Conclusion, S. 379f.
22 Das Folgende nach Brandt, Enklaven, S. 4f.; Gauvard, Grace especial, S. 800-803. Siehe auch
Haferland, Mündlichkeit, S. 173f.
22 Gauvard, Grace especial, S. 806-811.
 
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