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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0316

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31 Formen interpersoneller Gewalt

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ker aus der Rückschau als schlüssig erscheinen, und weniger den Zeitgenos-
sen selbst.
Während einige, vor allen an ritterlichen Idealen orientierte Chronisten
Giftmorde wohl aus ideellen Gründen als unehrenhaft aus ihren Darstellun-
gen verbannten,246 nutzen andere die verbreitete Sorge als Ausgangspunkt für
drastische Darstellungen, die in ihrem expliziten Charakter darauf ausgelegt
gewesen sein dürften, die Leser zu schockieren. Michel Pintoin machte etwa
zum Jahr 1385, als von einem erneuten Komplott Karls von Navarra (diesmal
gegen die Herzoge von Berry und Burgund) berichtete, die Dramatik die Si-
tuation durch eine detaillierte Schilderung deutlich, wie das Gift gewirkt hät-
te: Hätten die Herzoge auch nur eine winzige Menge des Puders zu sich ge-
nommen, hätten sie sich gefühlt, als würden sie äußerlich und innerlich ver-
brennen; unter Schreien hätten sie vor Schmerz jede Berührung anderer ge-
mieden, die Haare wären ihnen ausgefallen, die Haut hätte sich vom Fleisch
gelöst und sie wären binnen drei Tagen gestorben.^ in dieser Sicht würde
das Gift die Opfer nicht einfach nur qualvoll töten, sondern sie sozial isolieren
und ihre Körper verunstalten - Motive, die sinnbildlich für eine grauenhafte
Todesart stehen und in ihrer Summierung ein Bild des Schreckens lieferten.
Wie unterschiedlich Chronisten das Motiv des Giftmords nutzten, zeigen
auch Jacques du Clercq und Georges Chastellain anhand des Giftmord Ver-
suchs von 1462 an Philipp dem Guten. Während es Jacques du Clercq eher
um nüchterne Information ging, setzte Chastellain auf eine bewusst dramati-
sche Darstellung und zeigte damit nach Ross geradezu idealtypisch, wie in
der mittelalterlichen Historiographie narrative Spannung erzeugt wurde,248
die im Sinn des mmyrnanT auf die Zeitgenossen zurückgewirkt und ihre Angst
noch verstärkt haben dürfte. Minois deutet die Ängste entsprechend eher als
kollektive „Psychose" denn als Reaktion auf eine tatsächliche Gefahr^ Mit
Blick auf die Darstellungsmodi der Quellen mag eine solche Psychologisie-
rung zwar stimmig erscheinen, verdeckt aber den Wandel in der Art und
Weise, wie politische Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Die - vor-
sichtiger formuliert - Angst der Zeitgenossen resultierte aus veränderten
Methoden der politischen Auseinandersetzung, in der nun die Person des
politischen Gegners selbst zum Ziel wurde.

246 Collard, Crime, S. 10f., führt hier Cabaret d'Orville, den Herauf Berry und Olivier de la Marche
an. Zur Darstellung in Literatur, Hagiographie und juristischen Quellen, siehe ebd., S. 17-38
247 QM; ucrifafcm aF co u; formcMforMW cxfoyyMCMS, fpsMW crimen NFcrc pafc/ccff, taufe qjicadc pMlucrcm
esse a^hwaMS, t?MOÄ s; pre/äh dowfM; co aläyMaMfMlMm gMsfasscwf, ucfMÜ ignc cxfcn'MS iMfcn'MStyMC con-
SMwpfMri, damaufcs facfMW aMondsscuf Mf UM/ncra; mox capffü spowfc dcfhdsscMf, CMffs^MC
ad facfMW waMMS aucN; pofMisscf cf a carnc Ä?oT;'mc separarf, Mcc fndMO posf uäi'sscMf. Chronique du
Religieux, Bd. 1, S. 356. Ähnlich Juvenal des Ursins, Histoire, S. 364.
248 Ross, Strange case. Siehe die Darstellungen bei Jacques du Clercq, Memoires, Bd. 3, S. 212-218;
Chastellain, Oeuvres, Bd. 4, S. 234—269.
249 „C'est a la hn du XHh siede que l'on reparle de cette menace [das Gift als Waffe, CM] [...].
Mais plus que par son emploi reel, tres rarement prouve, c'est par la psychose qu'il fait regner
que le poison est revelateur d'un climat nouveau." Minois, Couteau, S. 21. Heers, Louis XI,
S. 207, spricht vorsichtiger von einer „Zeit der Angst", Collard, Pouvoir, S. 199, von einer
„Vergiftung des Geists". Collard, Crime, S. 8, weist auf die gesellschaftliche Bedeutung des
gemeinsamen Essens hin, die durch die Angst vor Vergiftung gestört wurde.
 
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