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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0346

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Handlungsmuster schienen in der neuartigen Konfliktlage nicht mehr auszu-
reichen, um Konflikte vor einer Eskalation beizulegen. Die besondere, als
übermäßig empfundene Präsenz der Gewalt im spätmittelalterlichen Frank-
reich lag für die Zeitgenossen darin, dass sie massiv die traditionellen Werte
und Parameter ihrer Bemessung verletzte.
Die breite gesellschaftliche Akzeptanz solcher Deutungsparameter lag
vermutlich gerade in ihrer Ambivalenz. So standen Vorstellungen der Recht-
mäßigkeit Grundsätzen der Moral als Orientierungspunkte quasi gleichwertig
gegenüber: Praktiken der Kriegsführung, die wie das Brennen auf die massi-
ve Schädigung des Gegners zielten, konnten in bestimmten Fällen zwar als
legitim gelten, gleichzeitig aber moralisch kritisiert werden; obrigkeitliche
Hinrichtungen gewannen durch ihre öffentliche Inszenierung an Rechtmä-
ßigkeit, die wiederum durch die Imitation des Verfahrens auch Aufständische
für sich in Anspruch nahmen. Eindeutigkeit ließ sich gegenüber divergieren-
den Bewertungsmaßstäben nur durch die Verabsolutierung eines einzelnen
Kriteriums erreichen: Die Obrigkeit beanspruchte das Monopol des Richtens
allein für sich; die Chronisten dagegen stellten verschiedene Rechtspositionen
sorgfältig nebeneinander und zeigten so deren Unvereinbarkeit, während die
Einbeziehung moralischer Überlegungen ihnen ein individuelles, eindeutiges
Urteil erlaubte.
Was aber waren die Grundlagen moralischer Urteile? Versteht man Moral
als Set ethisch-sittlicher Grundsätze, die das soziale Zusammenleben prägen
und als verbindlich angesehen werden/ so wird angesichts der beobachteten
Divergenz der Sichtweisen auf Gewalt die Subjektivität moralischer Urteile
klar. Was ein ,Exzess', also die Transgression erwarteter und erwartbarer
Grenzen, war, ist kaum präzise definierbar und oblag der Darstellungsinten-
tion des Chronisten. Moralische Urteile über Gewalt orientieren sich in den
Quellen dennoch mehrheitlich am Grundtenor ritterlicher Tugenden, an heh-
ren Intentionen und am ehrenhaften und berechenbaren Verhaltend
Entsprechend liegt mit der ständischen beziehungsweise geographischen
Zugehörigkeit von Personen ein weiterer Maßstab zur Bewertung von Gewalt
vor. Die Verabsolutierung eigener Verhaltensnormen musste bei der Interak-
tion verschiedener Gruppen zwangsläufig zu Konflikten führen: Kern der
Bewertung war nicht die Tat, sondern die soziale Stellung der an ihr Beteilig-
ten. Die Gewalt im innerfranzösischen Bürgerkrieg zwischen Armagnacs und
Bourguignons wurde als gravierender erachtet, als die der Engländer und
Franzosen im Hundertjährigen Krieg; ein plündernder Söldner war im Un-

' Unter dem Lemma ,Moral' verweist die Theologische Realenzyklopädie auf ,Sitte', die als
„Ethosgestalt" verstanden wird, „die das Zusammenleben individueller Personen in einer so-
zialen Formation, also ihre Interaktion, faktisch regelt." Stock, Sitte/Sittlichkeit, S. 318. Der Du-
den [-'2007], S. 1166, definiert ,Moral' als „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grunds-
ätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von
ihr als verbindlich akzeptiert werden."
^ Dies liegt vor allem am Übergewicht ritterlich orientierter Quellen in der Überlieferung. Jenseits
der ritterlichen Tradition ließe sich für das Spätmittelalter auch ein städtisches Normensystem
konstatieren.
 
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