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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0350

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11 Töten und Sterben

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coHe) verknüpft sind. Beispielhaft dafür ist eine von Thomas Basin geschilder-
te Episode: Als 1441 Pontoise durch französische Truppen eingenommen
wurde, hätten die Franzosen ihre Gegner ohne Gnade getötet. Der König
selbst habe ihm erzählt, dass sich ein Engländer zu ihm habe flüchten wollen
und sich schutzsuchend unter dem königlichen Pferd versteckt habe: „Man
verfolgte ihn aber mit so großer Wut und Raserei, dass man sogar fast das
Pferd des Königs getötet hätte.''^ Der König habe zwar Gnade gewähren wol-
len, aber seine Rufe seien nicht gehört worden. Auch wenn diese Episode
einzig von Basin überliefert wird, zeigt sie deutlich, wo die Grenzen der Ak-
zeptanz lagen: Wenn Wut jede Regung des Mitleids überlagerte und hand-
lungsleitend wurde, galt dies als inakzeptabel.
Hier offenbart sich allerdings eine Diskrepanz zwischen zwei Darstel-
lungsformen. In Begnadigungsbriefen stoßen gerade solche Tötungen auf
Verständnis, die etwa in „heißer Wut" affektiv begangen wurden/ Die plötz-
lich auftretende Wut war offenbar ein glaubwürdiger Beleg dafür, dass die
Tat nicht intendiert war, die Tötung also nicht vorsätzlich erfolgte. In diesem
Kontext scheinen derartige Affekthandlungen demnach akzeptiert gewesen
zu sein. Entsprechend betonten viele Supplikanten explizit ihre Wutausbrü-
che und setzten damit auf eine erfolgsversprechende Strategie, um von der
Obrigkeit eine Begnadigung zu erlangen. Auch die historiographischen Be-
richte über die Mordanschläge auf hochstehende Adlige (vg. Kap. IV.3.3)
kamen (trotz der vermutlich peniblen Planung der Attentate) nicht ohne
,WuT als Erklärungsmuster aus. Diese betrifft jedoch zumeist den Attentäter
und nicht den Hintermann, so dass die Planung als kaltblütig, das Töten
selbst aber als affektiv bedingt geschildert wurde: Philipp von Navarra sei
1354 zu zornig, gewesen, um Charles d'Espagne zu verschonen und Pierre de
Craon wurden 1392 ebensolche privaten Rachegelüste zugeschrieben/ Im
Falle des Mords an Ludwig von Orleans versuchte Chastellain, die Involvie-
rung Johanns Ohnefurcht dadurch zu erklären, dass er ihm zuschrieb, affektiv
gehandelt zu habend
In Bezug auf Kriegshandlungen erscheint Wut dagegen als negativ konno-
tierte Unbeherrschtheit - wobei die Anzahl entsprechender Fundstellen vor
allem bei Jean Froissart signifikant ist/ Wutausbrüche werden hier als Erklä-
rungsmuster für eigentlich nicht akzeptierte Handlungen herangezogen: Der
Wütende vergisst die Regeln des Anstands und trifft nicht auf Verständnis,
sondern auf Empörung. Als Louis d'Espagne 1342 zwei Gefangene habe hin-

^ Tanfo /^rore seuicM^Me a SMis /Misse proseeMlMW, Mi e^MMW ipsMW CM; iMsideFaf rex pene ocddereuL
Basin, Charles VII, Bd. 1, S. 274.
6 So etwa Jehan Ballet, der 1486 in „heißer Wut" einen Stein nach einem Nachbarn geworfen
hatte, der später an seinen Verletzungen starb. Lehre de remission für Jehan Ballet, April 1486,
Paris, AN, JJ 217, fol. 13' (Nr. 19). Siehe dazu auch S. 268 dieser Arbeit, bzw. S. 282, Anm. 27.
? Zu Philipp von Navarra: Chronique des quatre premiers Valois, S. 27f., Textzitat auf S. 294,
Anm. 109. Zu Pierre de Craon: Chronique du Religieux, Bd. 2, S. 2-4, Textzitat auf S. 296, Anm.
121.
s Chastellain, Oeuvres, Bd. 1, S. 16, Textzitat auf S. 304, Anm. 172.
9 Siehe z. B. Froissart, Chroniques (liv. I & II), S. 414—416 (1,177) und 645 (1,312); Froissart,
Chroniques (liv. III & IV), S. 157f. (111,10).
 
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