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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0400

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31 Ideal und Devianz

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zurechtgewiesen, weil er einen adligen Gefangenen aus Rache hinrichten
wollte. Auch Olivier de Clisson sei dafür kritisiert worden, dass er gefangen-
genommen Adlige getötet hatte.^ Durch derartige Reaktionen beziehungs-
weise ihre Verschriftlichung in Chroniken wurde deutlich gemacht, dass be-
stimmte Handlungsmuster als unerwünschte Abweichung angesehen wur-
den. Uber solche einzelnen Taten hinaus verkörpern Schurken deviantes Ver-
halten geradezu wesenhaft und bilden so Negativfiguren gegenüber den po-
sitiv konnotierten Helden.

312.1 Der Bastard von Vaurus
Als Heinrich V. 1422 Meaux einnahm, ließ er unter anderem den Bastard von
Vaurus an einem Baum hängen, so berichten mehrere Chroniken überein-
stimmend.^ Bei diesem recht geringen Informationsstand enden die Gemein-
samkeiten jedoch auch schon. Boris Bove teilte die Chroniken, die über die
Belagerung von Meaux und die Hinrichtung Vaurus' berichten, in vier Grup-
pen: armagnakische, parisnahe, englische (die hier nicht untersucht werden)
und burgundische Quellen.^ Während armagnakische Quellen Vaurus als
tapferen Verteidiger der Stadt dar stellen, wird er vor allem in der Historio-
graphie der Bourguignons als menschenverachtender Tyrann dargestellt, der
massenhaft Unschuldige an einem vor der Stadt stehenden Baum hängen ließ.
Diese Schilderungen finden in einer exemplarischen Beschreibung seiner
Gräueltaten durch den Bourgeois de Paris ihren Höhepunkt. Diese Schreckens-
geschichte wurde von der Forschung lange wörtlich genommen, in jüngerer
Zeit aber insbesondere von Beaune und Bove als fiktive „Phantasterei" bezie-
hungsweise „Beispiel des Schreckens" gedeutet.^ Angesichts der insgesamt
keineswegs eindeutigen Darstellung Vaurus' in den zeitgenössischen Berich-
ten offenbart gerade die übersteigerte Darstellung des Bourgeois die narrati-
ven Mechanismen, mit denen ein Krieger zum Schurken stilisiert werden
konnte.
Eine singuläre positive Sicht bietet der normannische Chronist Robert
Blondel, der Vaurus um 1450 zu einem loyalen Märtyrer der Armagnacs stili-
sierte, der eher sterben, als dem englischen König die Treue schwören woll-
te.^ Pierre de Fenin dagegen beschrieb die Verteidiger von Meaux grundsätz-
lich als tapfere Krieger, berichtete aber, Vaurus habe mehrere arme Leute an
einem Baum hängen lassen und sei dann selbst auf Geheiß Heinrichs an die-

87 Froissart, Chroniques (liv. I & II), S. 416 (1,177); Chronique des quatre premiers Valois, S. 332.
88 Die Geschichte und Darstellung des Bastards von Vaurus wurde ausführlich von Boris Bove
untersucht; die folgenden Ausführungen beruhen auf seinen Analysen, in denen er allerdings
stark nach der Glaubwürdigkeit der Hautpquelle, des BoMrgcois, fragt: Bove, Violence; Bove,
Deconstructing. Zur Person des Bastards von Vaurus, siehe ebd., S. 505f., Bove, Violence,
S. 124f.
89 Siehe Bove, Deconstructing, S. 510-515, sowie die Übersicht auf S. 520f. Dagegen unterschied
Bove an anderer Stelle nur drei Gruppen (unter Auslassung der englischen Chroniken), Bove,
Violence, S. 129-131.
90 Beaune, Rumeur, S. 198f.; Bove, Violence, S. 131f.; Bove, Deconstructing, S. 502 und 504f.
91 Blondel, Oeuvres, Bd. 2, S. 198f. (IV,10 §192) (RrÜHcTo Normanic).
 
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