Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0418

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
31 Ideal und Devianz

417

Gilles' de Rais als Verkörperung eines rein emotional agierenden, vormo-
dernen Menschentyps als unzulässige ,Vermittelalterlichung'7^ Vielmehr
zeige sich Gilles in seinem Handeln als sehr individuelle und eigenständige
Persönlichkeit, womit er - nach traditionellen Denkmustern - eher ein mo-
derner Mensch' sei 7'^ Entsprechend versuchte man in jüngster Zeit, sich
Gilles auf der Grundlage moderner Theorien zu nähern und ihn als Individu-
um zu deuten: Aus psychoanalytischer Sicht als Psychotiker, der durch die
Körper der Anderen sich selbst und seinen eigenen Körper verstehen wollte^
und aus soziologisch-kriminalistischer Perspektive als Typischer' Serienki!-
lerA3 Heers hingegen äußerte Zweifel an derartigen Versuchen, jahrhunder-
tealte Quellen, die ganz eigenen Beschreibungskriterien folgen, für moderne
Diagnosen in Anspruch zu nehmen.216
Relevanter sind ohnehin die zeitgenössischen Reaktionen, die aussage-
kräftig genug sind: Das Beharren der Richter auf einer Erklärung beziehungs-
weise das Schweigen der Chronisten zeigen, dass Gilles de Rais die Ver-
haltensnormen seiner Zeit eindeutig überschritten hatte und auf keinerlei
Akzeptanz stieße ihn daher zum Kronzeugen für eine grenzenlose Kultur
der Gewalt im Spätmittelalter zu erheben, führt in die Irre. Auch die Stili-
sierung des jungen Gilles de Rais zu einem Kriegshelden im Gefolge Jeanne
d'Arcs entspricht eher dem modernen Bedürfnis nach einem dramatischen
biographischen Widerspruch zu den späteren Grausamkeiten als dem, was
die Quellen uns überliefern: Gilles wird zwar wiederholt als Mitkämpfer
Jeanne d'Arcs genannt, jedoch nie an herausgehobener Position, sondern im-
mer als Teil einer größeren Gruppe.^
Vorsichtiger ließe sich daher formulieren, dass Gilles de Rais aus heutiger
Sicht sicher eine starke Neigung zu Mystizismus, Homosexualität, Pädophilie
und Sadismus hatte, die krankhafte Züge annahm Seine Stellung als Adli-
ger erlaubte es ihm, seine Gelüste recht lange ungestört ausleben zu können.
Vermutlich haben sein Rang und sein Hof als lokales Zentrum sogar dazu
geführt, dass Kinder und junge Männer in der Hoffnung auf Almosen oder

Wahrheit" motiviert war und so Je portrait de Gilles de Rais le plus abouti a ce jour" vorlegen
wollte, ebd., S. 10.
212 Parsons, Sympathy, S. 119-121.
213 Ebd., S. 125-130.
214 Bremaud, Crimes, S. 70.
213 Ross, Deviancy, S. 377-380, führt mit Rekurs auf Joseph C. Fischer drei Merkmale für moderne
Serienkiller an: die Charakteristika der Opfer, das Verhalten des Täters und dessen gesell-
schaftliches Umfeld; siehe auch ebd., S. 387-402. Auch Cazacu, Gilles de Rais, S. 184-198, setzt
sich mit dem Profil von , Serienkillern' auseinander und sieht viele Charakteristiken in Bezug
auf Gilles bestätigt.
216 Heers, Gilles de Rais, S. 165f.
212 So explizit Ross, Deviancy, S. 400-402. Vorsichtiger: Heers, Gilles de Rais, S. 142.
218 Siehe z. B. Chronique de la Pucelle, S. 278; Chartier, Chronqiue, Bd. 1, S. 73; Chroniques de
Perceval de Cagny, S. 166; Monstrelet, Chronique, Bd. 4, S. 337. Siehe zur Rolle Gilles' im Ge-
folge Jeanne d'Arcs Bouzy, Rais. Siehe dazu Heers, Gilles de Rais, S. 13, 60-63; Laret-Kayser,
Gilles de Rais, S. 28f.
219 Heers, Gilles de Rais, S. 165-167.
 
Annotationen