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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0423

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422

VI Vertiefungen

Wandel. Claude Gauvard wies darauf hin, dass sich das hier vor gestellte En-
semble an Stereotypen in dieser Zusammensetzung im 14. Jahrhundert ent-
wickelte.^ Während in den Gottesfrieden des 10. und 11. Jahrhunderts
Kindsmorde noch nicht thematisiert wurden, waren sie im 14. und 15. Jahr-
hundert ein sehr präsentes Schreckensbild. Auch die Sensibilität gegenüber
Vergewaltigungen wuchs, wie einerseits die wachsende Bedeutung der Jung-
fräulichkeit in Heiratsgesetzen und andererseits die Aufnahme von Ver-
gewaltigungen unter die 1357 als unverzeihlich definierten Verbrechen
(cnmes ümmissiMcs) zeigte?
Gleichzeitig zeigt die Ordonnanz von 1357 das enge Wechselspiel zwi-
schen Gewalterfahrungen, obrigkeitlicher Kriminalisierung und kollektiven
Ängsten: Karl (V.) berief sich in der Ordonnanz von 1357 auf die Beschwer-
den seiner Untertanen (d%mcMr du Po/yU) und erklärte vor diesem Hinter-
grund bestimmte Vergehen wie Mord, Vergewaltigung und Brandstiftung als
unentschuldbar. Diese Fixierung machte es dann auch in Chronistik möglich,
unliebsame Gegner gezielt durch die Zuschreibung dieser unentschuldbaren
Taten zu diffamieren.^ Die sich verfestigenden Stereotype boten dem König
wiederum die Möglichkeit, wegen entsprechender Klagen ein obrigkeitliches
Eingreifen und etwaige Sanktionen zu rechtfertigen.^ Karl VII. habe die al-
lerorts kursierenden Gerüchte über Gewalttaten regelrecht als Begründung
für seine Reformmaßnahmen genutzt, die wiederum die Position des König-
tums stärkten, so Gauvard.^" Insofern bestand zwischen den narrativen Figu-
ren, der damaligen Lebenswelt und dem politischem Handeln der Obrigkeit
eine enge Wechselwirkung, wie sie für den Begriff des WMgÜMnr grund-
legend ist.
Gewaltstereotype waren damit keine rein literarische Stilisierung von
Kriegsübeln, sondern hatten rückgekoppelt an Erfahrungen, Gerüchte und
Ängste einen ,Sitz im Leben'. Als moralische Indikatoren zeigen sie, welche
Werte angesichts der Kriegstührung beziehungsweise der Gewaltausübung
kollektiv als gefährdet galten und als schützenswert verteidigt wurdenA' Die
Darstellung summierter Tabubrüche diente als narratives Mittel, um die Ge-
waltausübenden zu stigmatisieren und sozial auszugrenzen: In den Erzähl-
strängen der Chroniken sollten sie durch ihre vermeintlichen Taten sowohl
sich selbst als auch ihre Intentionen diskreditieren.^

246 Gauvard, Grace especial, S. 210-212; Gauvard, Rumeur [1994], S. 159f.
247 Ordonnances, Bd. 3, S. 112-146, §6 (Karl, Dauphin, 1357), Textzitat auf S. 281, Anm. 19. Siehe
dazu Gauvard, Grace especial, S. 797 und 813-815; Gonthier, Chatiment, S. 34—38. Zur Bedeu-
tung der Heiratsverbindung siehe auch Chronique du Religieux, Bd. 5, S. 576.
248 Siehe dazu Gauvard, Grace especial, S. 199.
249 So etwa Karl VII. in einer Ordonnanz von 1447, Ordonnances, Bd. 13, S. 509f. (Karl VII., 1447).
280 Gauvard, Grace especial, S. 261-263; Gauvard, Rumeur [2000], S. 286f. Zur Wirkung von Ge-
rüchten siehe Beaune, Les Monarchies medievales, bes. S. 175, sowie Toureille, Association.
284 Gauvard, Rumeur [1994], S. 177.
282 Gauvard, Grace especial, S. 205.
 
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