Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur — 1.1905
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https://doi.org/10.11588/diglit.50013#0099
DOI Heft:
Viertes Heft (April 1905)
DOI Artikel:Peltzer, Alfred: [Rezension von: Rudolf Kautzsch, Die bildende Kunst und das Jenseits]
DOI Artikel:Kautzsch, Rudolf: [Rezension von: Wilh. Wätzoldt, Das Kunstwerk als Organismus. Ein ästhetisch-biologischer Versuch]
DOI Artikel:Grautoff, Otto: [Rezension von: Karl Scheffler, Konventionen der Kunst]
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April-Heft.
Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur.
91
den technischen Ausdrucksmitteln zu dem geheim-
nisvollsten jeweiligen Innenleben zu erkennen.
Bei dieser Gelegenheit mag es dem Rezensenten
gestattet sein, in einer Zwischenbemerkung eine
Lanze einzulegen für die Väter unserer Wissen-
schaft. die Kugler, die Schnaase u. s. w., die in
letzter Zeit häufig mit gar zu viel schülerhaft sich
überhebender Geringschätzung abgetan werden. Man
findet ihre langen kulturgeschichtlichen Kapitel über-
flüssig und entbehrlich, man vermisst Vermittlungs-
fäden und Zusammenhang zwischen diesen Ausfüh-
rungen und den eigentlich kunsthistorischen und
spricht ihnen kurzerhand die Berechtigung ab. Mir
will scheinen, dass hier jedoch nicht so sehr eine
Schuld jener älteren Kunsthistoriker vorliegt, wie
mangelndes Verständnis heutiger Leser und ihre
Unfähigkeit, zwischen Zeilen zu lesen und mit dem
einmal in bestimmter Richtung angeregten Geist
bei der Lektüre sich selbst Verbindungsfäden zu
spinnen. Jene Autoren wussten wohl, was Rousseau
schon wusste, der einmal erklärte, dass nichts so
langweilig sei, wie alles gesagt zu bekommen. So
ist es falsch und ungerecht und überdies ein Zei-
chen von mangelndem eigenen Geist, jenen älteren
Schriftstellern vorzuwerfen, sie hätten zu viel und
gänzlich Ueberflüssiges gebracht: in Wahrheit ha-
ben sie in gewissem Sinne sogar nur wenig ausge-
sprochen.
Damit soll nun zwar nicht behauptet werden,
dass wir auf diesen Wegen seit der Zeit nicht be-
trächtlich weiter gekommen wären und auch ferner
vorwärts schreiten müssen, wobei wir allerdings
immer mehr erkennen dürften, wie sehr der Ur-
grund des Verhältnisses von Kunst zu Kultur und
Innenleben ein geheimnisvolles ist.
Als ein sehr geistvolles Beispiel solcher kunst-
historischen Betrachtungsweise, welche die Jfäden
feinsinnig spinnt und tiefgründig festigt, stellt sich
uns Kautzsch’s kleine Schrift dar, welche Zünfti-
gen wie Unzünftigen warm empfohlen werden kann.
Sie führt seine These an einem vorzüglich eindring-
lichen Beispiel durch: wie haben die wechselnden
religiösen Anschauungen, die sich in besonders be-
deutsamer Weise in dem verschiedenen Verhältnis
zu den Vorstellungen vom Jenseits und einem Leben
nach dem Tode oder auch dem Ableugnen oder dem
Nichtachten eines solchen äussern, die Kunst be-
einflusst? Die Religion bestimmt den Kultus; die
Kultusformen erheischen besondere Architektur-
und Bildformen, begünstigen oder beeinträchtigen
einzelne Kunstgattungen. Den herrschenden reli-
giösen Empfindungen werden entsprechende Bau-
formen geschaffen, die ihrerseits wieder besondere
Stimmungen zu begünstigen und hervorzurufen ge-
eignet sind. Werden die Gedanken der Menschen
nicht so sehr auf ein „Jenseits“ gelenkt, dann sind
die Blicke deutlicher auf die „diesseitige“ Welt der
Erscheinungen gerichtet: klare Naturbetrachtung,
Freude an der Wirklichkeit betätigen sich. Geht
damit Hand in Hand ein volles, kräftiges Selbst-
bewusstsein, sei es sich äussernd als Ehr- und Ruhm-
begierde oder als naive Freude an der eigenen
Schönheit und Stärke, so sind die Bedingungen für
eine Blüte der Plastik gegeben. Wenden sich im
Gegenteil die Gläubigen scheu von Leben und Welt
ab und setzen alle Hoffnungen auf ein besseres
künftiges Dasein, so schwindet die Fähigkeit und
der Wille zu naturfroher und naturtreuer Darstel-
lung im Bilde und auch zur-Verklärung der Wirk-
lichkeit durch die Schönheit, ja, die Kunst kann
sich ganz ins Unwirkliche verflüchtigen, indem sie
ausschliesslich symbolisch wird.
Vornehmlich an der mehrtausendjährigen Ge-
schichte Aegyptens mit ihren sehr entscheidenden
Wandlungen der religiösen Vorstellungen erläutert
Kautzsch in sehr fesselnder Weise die verschiedenen
Zustände der Kunst und ihre Abhängigkeit von den
Zuständen des menschlichen Innenlebens. Weitere
Ausblicke auf die Antike, die altchristliche, die
mittelalterliche Kunst und die Renaissance schliesst
er an. Alfred Peltzer
Wilh. Wätzoldt, Das Kunstwerk als Orga-
nismus. Ein ästhetisch-biologischer Ver-
such. Verlag der Dürrschen Buchhand-
lung. Leipzig, 1905. 53 S. 8°. M. 1,60.
Eine Reihe von Vergleichen: der Tendenz zur
Stabilität im Natur geschehen entspicht die Harmo-
nie der künstlerischen Wirkung, der Gleichgewichts-
zustand aller wirkenden Faktoren im Kunstwerk;
der Entwickelung von der Zelle zum höchstkompli-
zierten Organismus die künstlerische Entwickelung
vom „rohbehauenen Steinwürfel früher ägyptischer
Kunst“ zur vollendeten Statue; dem physischen
Trieb der Kraftbetätigung, z. B. im Zeugungsvor-
gang, derselbe Trieb im künstlerischen Zeugungs-
akt und so weiter. Ich habe nicht begriffen, was
alle diese Vergleiche nun eigentlich über das Wesen
künstlerischer’ Tätigkeit und ihrer Ergebnisse aus-
sagen. Rudolf Kautzsch
Karl Scheffler, Konventionen der Kunst.
Leipzig-, Julius Zeitler. Brosch. Mk. 1,50.
Der begabte und feinsinnige berliner Kunst-
schriftsteller gibt in dieser Schrift in kurzen
Aphorismen seinen Gedanken über Kunst- und Stil-
probleme im Zusammhang mit einem schöpferischen
Leben einen prägnanten Ausdruck. Die Grundideen
Schefflers, dass „alle religiösen Dogmen, alle
philosophischen Systeme Konventionen sind, die
Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur.
91
den technischen Ausdrucksmitteln zu dem geheim-
nisvollsten jeweiligen Innenleben zu erkennen.
Bei dieser Gelegenheit mag es dem Rezensenten
gestattet sein, in einer Zwischenbemerkung eine
Lanze einzulegen für die Väter unserer Wissen-
schaft. die Kugler, die Schnaase u. s. w., die in
letzter Zeit häufig mit gar zu viel schülerhaft sich
überhebender Geringschätzung abgetan werden. Man
findet ihre langen kulturgeschichtlichen Kapitel über-
flüssig und entbehrlich, man vermisst Vermittlungs-
fäden und Zusammenhang zwischen diesen Ausfüh-
rungen und den eigentlich kunsthistorischen und
spricht ihnen kurzerhand die Berechtigung ab. Mir
will scheinen, dass hier jedoch nicht so sehr eine
Schuld jener älteren Kunsthistoriker vorliegt, wie
mangelndes Verständnis heutiger Leser und ihre
Unfähigkeit, zwischen Zeilen zu lesen und mit dem
einmal in bestimmter Richtung angeregten Geist
bei der Lektüre sich selbst Verbindungsfäden zu
spinnen. Jene Autoren wussten wohl, was Rousseau
schon wusste, der einmal erklärte, dass nichts so
langweilig sei, wie alles gesagt zu bekommen. So
ist es falsch und ungerecht und überdies ein Zei-
chen von mangelndem eigenen Geist, jenen älteren
Schriftstellern vorzuwerfen, sie hätten zu viel und
gänzlich Ueberflüssiges gebracht: in Wahrheit ha-
ben sie in gewissem Sinne sogar nur wenig ausge-
sprochen.
Damit soll nun zwar nicht behauptet werden,
dass wir auf diesen Wegen seit der Zeit nicht be-
trächtlich weiter gekommen wären und auch ferner
vorwärts schreiten müssen, wobei wir allerdings
immer mehr erkennen dürften, wie sehr der Ur-
grund des Verhältnisses von Kunst zu Kultur und
Innenleben ein geheimnisvolles ist.
Als ein sehr geistvolles Beispiel solcher kunst-
historischen Betrachtungsweise, welche die Jfäden
feinsinnig spinnt und tiefgründig festigt, stellt sich
uns Kautzsch’s kleine Schrift dar, welche Zünfti-
gen wie Unzünftigen warm empfohlen werden kann.
Sie führt seine These an einem vorzüglich eindring-
lichen Beispiel durch: wie haben die wechselnden
religiösen Anschauungen, die sich in besonders be-
deutsamer Weise in dem verschiedenen Verhältnis
zu den Vorstellungen vom Jenseits und einem Leben
nach dem Tode oder auch dem Ableugnen oder dem
Nichtachten eines solchen äussern, die Kunst be-
einflusst? Die Religion bestimmt den Kultus; die
Kultusformen erheischen besondere Architektur-
und Bildformen, begünstigen oder beeinträchtigen
einzelne Kunstgattungen. Den herrschenden reli-
giösen Empfindungen werden entsprechende Bau-
formen geschaffen, die ihrerseits wieder besondere
Stimmungen zu begünstigen und hervorzurufen ge-
eignet sind. Werden die Gedanken der Menschen
nicht so sehr auf ein „Jenseits“ gelenkt, dann sind
die Blicke deutlicher auf die „diesseitige“ Welt der
Erscheinungen gerichtet: klare Naturbetrachtung,
Freude an der Wirklichkeit betätigen sich. Geht
damit Hand in Hand ein volles, kräftiges Selbst-
bewusstsein, sei es sich äussernd als Ehr- und Ruhm-
begierde oder als naive Freude an der eigenen
Schönheit und Stärke, so sind die Bedingungen für
eine Blüte der Plastik gegeben. Wenden sich im
Gegenteil die Gläubigen scheu von Leben und Welt
ab und setzen alle Hoffnungen auf ein besseres
künftiges Dasein, so schwindet die Fähigkeit und
der Wille zu naturfroher und naturtreuer Darstel-
lung im Bilde und auch zur-Verklärung der Wirk-
lichkeit durch die Schönheit, ja, die Kunst kann
sich ganz ins Unwirkliche verflüchtigen, indem sie
ausschliesslich symbolisch wird.
Vornehmlich an der mehrtausendjährigen Ge-
schichte Aegyptens mit ihren sehr entscheidenden
Wandlungen der religiösen Vorstellungen erläutert
Kautzsch in sehr fesselnder Weise die verschiedenen
Zustände der Kunst und ihre Abhängigkeit von den
Zuständen des menschlichen Innenlebens. Weitere
Ausblicke auf die Antike, die altchristliche, die
mittelalterliche Kunst und die Renaissance schliesst
er an. Alfred Peltzer
Wilh. Wätzoldt, Das Kunstwerk als Orga-
nismus. Ein ästhetisch-biologischer Ver-
such. Verlag der Dürrschen Buchhand-
lung. Leipzig, 1905. 53 S. 8°. M. 1,60.
Eine Reihe von Vergleichen: der Tendenz zur
Stabilität im Natur geschehen entspicht die Harmo-
nie der künstlerischen Wirkung, der Gleichgewichts-
zustand aller wirkenden Faktoren im Kunstwerk;
der Entwickelung von der Zelle zum höchstkompli-
zierten Organismus die künstlerische Entwickelung
vom „rohbehauenen Steinwürfel früher ägyptischer
Kunst“ zur vollendeten Statue; dem physischen
Trieb der Kraftbetätigung, z. B. im Zeugungsvor-
gang, derselbe Trieb im künstlerischen Zeugungs-
akt und so weiter. Ich habe nicht begriffen, was
alle diese Vergleiche nun eigentlich über das Wesen
künstlerischer’ Tätigkeit und ihrer Ergebnisse aus-
sagen. Rudolf Kautzsch
Karl Scheffler, Konventionen der Kunst.
Leipzig-, Julius Zeitler. Brosch. Mk. 1,50.
Der begabte und feinsinnige berliner Kunst-
schriftsteller gibt in dieser Schrift in kurzen
Aphorismen seinen Gedanken über Kunst- und Stil-
probleme im Zusammhang mit einem schöpferischen
Leben einen prägnanten Ausdruck. Die Grundideen
Schefflers, dass „alle religiösen Dogmen, alle
philosophischen Systeme Konventionen sind, die