Zum Problem des Straßburger Gerichtspfeilers
von der Stellung des Straßburger Südportals im Zusammenhänge der Entwicklung gelangt zu sein1. Dem
Verfasser dieser Zeilen ist auch heute noch die innige Vertrautheit des Straßburger Hauptmeisters mit
der Chartraner Kunst gewiß, in der mancherlei zusammengeflossen war. Des Straßburgers Individualität
scheint bedingt durch die Chartraner Lehre und den in ihm selbst waltenden, von ihm selbst entwickelten
Willen zu intensiver Sichtbarmachung inhaltlicher psychologischer Werte.
In den folgenden Zeilen möchte er einen neuen Hinweis auf die Wichtigkeit von Chartres für
den Straßburger Meister geben. Chartres hat außer seinem ungeheuren Skulpturen besitz auch einen ganz
großen Schatz an farbigen Fensterverglasungen, die ihrem Umfang nach bekanntgemacht zu haben, ein
neues Verdienst des vortrefflichen Etienne Houvet ist2. Der Gedanke liegt nahe, ob der Straßburger
Meister der Ekklesia und Synagoge nicht etwa auch aus dem Darstellungskreise der Fenster diese oder jene
Anregung empfangen habe.
Von jeher hat es Befremden erregt, daß gerade im Querhause des Straßburger Münsters das
»Jüngste Gericht« zur Darstellung gelangt ist, ein Gegenstand, den man insgemein der Westwand des Lang-
hauses — hier war der Malerei eine ganz große Fläche zur Verfügung — oder einem der mit Plastik auszu-
stattenden Portale vorzubehalten pflegte. Denn er bot sich mit seinem vielfigurigen kompositionellen
Apparat doch einem symmetrischen Aufbau in horizontalen Streifen besonders gut dar, und vollends mochte
der Bogenscheitel des Tympanons für den Weltenrichter wie vorbestimmt erscheinen. Im spätroma-
nischen Münsterquerhaus aber war — so scheint es — weder eine genügend große und auch sonst ge-
eignete Malfläche für ein »Jüngstes Gericht« vorhanden, noch an seinen Fronten ein Portal. Diese Plätze
waren in der Marienkirche selbstredend dem Marienzyklus vorbehalten; er hat sich in der Tat über sie alle,
über das Portal im Norden wie über das Doppelportal der Südfront ausgedehnt.
Und doch ist einmal ein solches Gerichtsportal vorhanden gewesen oder doch mindestens seine
Ausführung vorbereitet worden. Zeugen davon sind die — uns leider nur aus einem Stich von 1617 und aus
sehr spärlichen Fragmenten bekannten — zwölf Apostelfiguren, die bis 1791 zwischen Ekklesia und Synagoge
in den vier Gewänden des Doppelportals der Südfront angebracht gewesen sind. Daß sie ikonographisch
außerhalb des Zusammenhangs des Skulpturenschmucks dieses Bauteils stehen, ist oft bemerkt worden.
Weder mit Ekklesia und Synagoge noch mit den Marienszenen der beiden Bogenfelder haben sie inhaltlich
etwas zu tun. Man muß also annehmen, daß sie entweder ursprünglich mit anderen, später vom Ekklesia-
meister beseitigten Tympanonreliefs verbunden waren oder daß sie nach Preisgabe eines älteren Planes nach-
träglich eingefügt worden sind3. Stilistisch erscheinen sie der Mehrheit der Betrachter älter als die noch
existierenden Teile der Portaldekoration4. Der Gedanke, an der Südfront ein Doppelportal statt des ein-
fachen, dem Nordportal entsprechenden zu errichten, hätte notwendig den Verzicht auf die Darstellung des
»Jüngsten Gerichtes« zur Folge gehabt; denn es wäre wohl unmöglich gewesen, für das zweite Tympanon
des Doppelportals eine äquivalente, mit ihm inhaltlich verbundene Darstellung zu finden. Da aber der
1 Archiv für elsässische Kirchengeschichte, Straßburg Bd. I (1926), S. 598!. und Bd. II (1927), S. 414 fr.
2 Yves Delaporte und Etienne Houvet, Les vitraux de la cathedrale de Chartres 1926, 1 Band Text und 3 Mappen
mit Tafeln.
3 Vgl. hierzu auch Jantzen a. a. O-, S. 30 und die Diskussion zwischen Otto Schmitt und ihm in dieser Zeitschrift,
Bd. I, S. 82 ff.
4 So Otti Schmitt, Jantzen u. a. Völlig abweichend nur Hamann-Weigert, Das Münster zu Straßburg und seine
Bildwerke, 1928, S. 66 ff., die in den Aposteln das Werk eines jüngeren Meisters sehen.
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von der Stellung des Straßburger Südportals im Zusammenhänge der Entwicklung gelangt zu sein1. Dem
Verfasser dieser Zeilen ist auch heute noch die innige Vertrautheit des Straßburger Hauptmeisters mit
der Chartraner Kunst gewiß, in der mancherlei zusammengeflossen war. Des Straßburgers Individualität
scheint bedingt durch die Chartraner Lehre und den in ihm selbst waltenden, von ihm selbst entwickelten
Willen zu intensiver Sichtbarmachung inhaltlicher psychologischer Werte.
In den folgenden Zeilen möchte er einen neuen Hinweis auf die Wichtigkeit von Chartres für
den Straßburger Meister geben. Chartres hat außer seinem ungeheuren Skulpturen besitz auch einen ganz
großen Schatz an farbigen Fensterverglasungen, die ihrem Umfang nach bekanntgemacht zu haben, ein
neues Verdienst des vortrefflichen Etienne Houvet ist2. Der Gedanke liegt nahe, ob der Straßburger
Meister der Ekklesia und Synagoge nicht etwa auch aus dem Darstellungskreise der Fenster diese oder jene
Anregung empfangen habe.
Von jeher hat es Befremden erregt, daß gerade im Querhause des Straßburger Münsters das
»Jüngste Gericht« zur Darstellung gelangt ist, ein Gegenstand, den man insgemein der Westwand des Lang-
hauses — hier war der Malerei eine ganz große Fläche zur Verfügung — oder einem der mit Plastik auszu-
stattenden Portale vorzubehalten pflegte. Denn er bot sich mit seinem vielfigurigen kompositionellen
Apparat doch einem symmetrischen Aufbau in horizontalen Streifen besonders gut dar, und vollends mochte
der Bogenscheitel des Tympanons für den Weltenrichter wie vorbestimmt erscheinen. Im spätroma-
nischen Münsterquerhaus aber war — so scheint es — weder eine genügend große und auch sonst ge-
eignete Malfläche für ein »Jüngstes Gericht« vorhanden, noch an seinen Fronten ein Portal. Diese Plätze
waren in der Marienkirche selbstredend dem Marienzyklus vorbehalten; er hat sich in der Tat über sie alle,
über das Portal im Norden wie über das Doppelportal der Südfront ausgedehnt.
Und doch ist einmal ein solches Gerichtsportal vorhanden gewesen oder doch mindestens seine
Ausführung vorbereitet worden. Zeugen davon sind die — uns leider nur aus einem Stich von 1617 und aus
sehr spärlichen Fragmenten bekannten — zwölf Apostelfiguren, die bis 1791 zwischen Ekklesia und Synagoge
in den vier Gewänden des Doppelportals der Südfront angebracht gewesen sind. Daß sie ikonographisch
außerhalb des Zusammenhangs des Skulpturenschmucks dieses Bauteils stehen, ist oft bemerkt worden.
Weder mit Ekklesia und Synagoge noch mit den Marienszenen der beiden Bogenfelder haben sie inhaltlich
etwas zu tun. Man muß also annehmen, daß sie entweder ursprünglich mit anderen, später vom Ekklesia-
meister beseitigten Tympanonreliefs verbunden waren oder daß sie nach Preisgabe eines älteren Planes nach-
träglich eingefügt worden sind3. Stilistisch erscheinen sie der Mehrheit der Betrachter älter als die noch
existierenden Teile der Portaldekoration4. Der Gedanke, an der Südfront ein Doppelportal statt des ein-
fachen, dem Nordportal entsprechenden zu errichten, hätte notwendig den Verzicht auf die Darstellung des
»Jüngsten Gerichtes« zur Folge gehabt; denn es wäre wohl unmöglich gewesen, für das zweite Tympanon
des Doppelportals eine äquivalente, mit ihm inhaltlich verbundene Darstellung zu finden. Da aber der
1 Archiv für elsässische Kirchengeschichte, Straßburg Bd. I (1926), S. 598!. und Bd. II (1927), S. 414 fr.
2 Yves Delaporte und Etienne Houvet, Les vitraux de la cathedrale de Chartres 1926, 1 Band Text und 3 Mappen
mit Tafeln.
3 Vgl. hierzu auch Jantzen a. a. O-, S. 30 und die Diskussion zwischen Otto Schmitt und ihm in dieser Zeitschrift,
Bd. I, S. 82 ff.
4 So Otti Schmitt, Jantzen u. a. Völlig abweichend nur Hamann-Weigert, Das Münster zu Straßburg und seine
Bildwerke, 1928, S. 66 ff., die in den Aposteln das Werk eines jüngeren Meisters sehen.
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