Ernst Polaczek / Zum Problem des Stra ßburger Gerichtspfeilers
Wunsch nach Behandlung des Themas offenbar sehr stark war, so entschloß man sich, es an einem bereits
vorhandenem achteckigen Pfeiler in peripherischer Form anzubringen1. Man ordnete drei Reihen von je
vier Figuren übereinander, zu oberst Christus als Weltenrichter und drei mit den Werkzeugen seiner Marter
ausgestattete Engel, in der Mitte die vier zum Gericht rufenden Engel, zu unterst die vier Evangelisten,
getragen von ihren Symbolen. Also eine Darstellung, die keineswegs, wie eine flächenhafte, mit einem
Blick erfaßt werden konnte. Nein, man mußte den Pfeiler dreimal umschreiten, um sämtliche Figuren zu
sehen, oder man mußte das Auge, wenn man ihn nur einmal umschritt, viermal den Weg von unten nach
Chartres, Kathedrale. Schema der westlichen Rose
nach Delaporte, Houvet, Les vitraux. . . 1926, Fig. 67, p. 520
oben oder umgekehrt machen lassen.
Nur, indem er ein Element der Kom-
position nach dem anderen aufnahm,
konnte dem Betrachter der Zu-
sammenhang des Ganzen klar wer-
den2. Stoehr hat a. a. O. I, S. 389 ff.,
außerordentlich fein nachfühlend,
dargestellt, durch welche künstle-
rischen Mittel der große Meister die
Betrachter seines Werkes auf die
von ihm gewollten Wege zu zwingen
versucht hat.
Die mittelalterliche Kunst
kennt nur wenige Beispiele derartig
in einzelne, nicht auf einmal über-
sehbare Figuren aufgelöster Kompo-
sitionen. Seltsamerweise aber findet
sich in Chartres ein »Jüngstes Ge-
richt«, das wohl mit dem Engels-
pfeiler verglichen werden darf. Ich
meine nicht das im Tympanon eines
der südlichen Querhausportale, son-
dern das in dem großen, mit Maß-
werk ausgesetzten Kreisfenster der
Westfront (Textabb. obenst.), das vermutlich dem Anfang des 13. Jahrhunderts angehört3. In konzentrischer An-
ordnung um ein die Figur des Weltrichters enthaltendes Mittelfeld (1 unserer Abbildung) finden sich hier in
einem inneren Kreis die Evangelistensymbole (2—5) und Halbfiguren von Engeln (6—13); in einem zweiten Kreis
sechs Apostelpaare (26—31); in einem dritten die Engel mit den Werkzeugen des Martyriums (16, 17), Engel,
1 L. Hell, Der Engelspfeiler des Straßburger Münsters. Freiburg 1925, und J. Walter, Le Pilier du Jugement
dit le Pilier des Anges, Bulletin de la Societe des Amis de la Cathedrale de Strasbourg, 2ß Serie, 1. Bd. (1925).
2 Der überlieferte Namen »Engelspfeiler«, der an die besonders auffallenden geflügelten Gestalten der mittleren
Reihe anknüpft, zeigt, wie wenig das naive Auge den inhaltlichen Zusammenhang erfassen konnte.
3 Yves Delaporte und Etienne Houvet a. a. O., Text S. 520.
15°
Wunsch nach Behandlung des Themas offenbar sehr stark war, so entschloß man sich, es an einem bereits
vorhandenem achteckigen Pfeiler in peripherischer Form anzubringen1. Man ordnete drei Reihen von je
vier Figuren übereinander, zu oberst Christus als Weltenrichter und drei mit den Werkzeugen seiner Marter
ausgestattete Engel, in der Mitte die vier zum Gericht rufenden Engel, zu unterst die vier Evangelisten,
getragen von ihren Symbolen. Also eine Darstellung, die keineswegs, wie eine flächenhafte, mit einem
Blick erfaßt werden konnte. Nein, man mußte den Pfeiler dreimal umschreiten, um sämtliche Figuren zu
sehen, oder man mußte das Auge, wenn man ihn nur einmal umschritt, viermal den Weg von unten nach
Chartres, Kathedrale. Schema der westlichen Rose
nach Delaporte, Houvet, Les vitraux. . . 1926, Fig. 67, p. 520
oben oder umgekehrt machen lassen.
Nur, indem er ein Element der Kom-
position nach dem anderen aufnahm,
konnte dem Betrachter der Zu-
sammenhang des Ganzen klar wer-
den2. Stoehr hat a. a. O. I, S. 389 ff.,
außerordentlich fein nachfühlend,
dargestellt, durch welche künstle-
rischen Mittel der große Meister die
Betrachter seines Werkes auf die
von ihm gewollten Wege zu zwingen
versucht hat.
Die mittelalterliche Kunst
kennt nur wenige Beispiele derartig
in einzelne, nicht auf einmal über-
sehbare Figuren aufgelöster Kompo-
sitionen. Seltsamerweise aber findet
sich in Chartres ein »Jüngstes Ge-
richt«, das wohl mit dem Engels-
pfeiler verglichen werden darf. Ich
meine nicht das im Tympanon eines
der südlichen Querhausportale, son-
dern das in dem großen, mit Maß-
werk ausgesetzten Kreisfenster der
Westfront (Textabb. obenst.), das vermutlich dem Anfang des 13. Jahrhunderts angehört3. In konzentrischer An-
ordnung um ein die Figur des Weltrichters enthaltendes Mittelfeld (1 unserer Abbildung) finden sich hier in
einem inneren Kreis die Evangelistensymbole (2—5) und Halbfiguren von Engeln (6—13); in einem zweiten Kreis
sechs Apostelpaare (26—31); in einem dritten die Engel mit den Werkzeugen des Martyriums (16, 17), Engel,
1 L. Hell, Der Engelspfeiler des Straßburger Münsters. Freiburg 1925, und J. Walter, Le Pilier du Jugement
dit le Pilier des Anges, Bulletin de la Societe des Amis de la Cathedrale de Strasbourg, 2ß Serie, 1. Bd. (1925).
2 Der überlieferte Namen »Engelspfeiler«, der an die besonders auffallenden geflügelten Gestalten der mittleren
Reihe anknüpft, zeigt, wie wenig das naive Auge den inhaltlichen Zusammenhang erfassen konnte.
3 Yves Delaporte und Etienne Houvet a. a. O., Text S. 520.
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