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Grothe, Hugo [Bearb.]
Orientalisches Archiv: illustrierte Zeitschrift für Kunst, Kulturgeschichte u. Völkerkunde der Länder des Ostens — 1.1910/​1911

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Münsterberg, Oskar: Leonardo da Vinci und die chinesische Landschaftsmalerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.69602#0154

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Leonardo da Vinci und die chinesische Landschafts-
malerei.

Von Oscar Münsterberg.
Mit 13 Abbildungen im Text und auf 2 Tafeln (XXVI—XXVII).

eite, flache Steppen, abgeschlossen von
anmutigen Hügelketten, und hoch-
ragende Gebirgsmassen, in die stark-
strömende Flüsse ihr tiefes Bett gegraben haben,
bilden charakteristische Landschaftsformen des
chinesischen Reiches. Eine unregelmäßige Zer-
klüftung belebt die Monotonie der Steinmassen;
steilabfallende Felswände endigen in grotesk
geformten zackigen Spitzen. Die gewaltigen
Wassermengen der Ströme, z. B. des Yang-
tsekiang werden wiederholt zwischen derartig
steilen Wänden zum gefährlichen Strudel ein-
geschnürt. Kleinere Zuflüsse müssen bald in
hüpfenden Kaskaden, bald in hohem Fall ihren
Weg aus den Gebirgen zum Strome suchen.
Diese großzügige, oft harte Landschaft ist von
maßgebendem Einfluß sowohl für viele kulturelle
als auch besonders für künstlerische Entwick-
lungen geworden.
Auf den weiten Steppen in Nord- und Mittel-
Asien sind jene kriegerischen Nomadenhorden
geboren, die in stetigem Kampfe mit ihren Nach-
barn lebten und als Indoskythen, Hunnen und
Mongolen kühne Welteroberer wurden. Das
eigentliche China war etwa bis zum vierten
Jahrhundert v. Chr. eine kleine ostasiatische Kultur-
oase im Norden am gelben Flusse. Dort haben
die Zeitgenossen von Sokrates und Buddha die
geistigen Grundlagen der chinesischen Kultur ge-
schaffen. Confucius schrieb seine philosophischen
Werke, in denen er mit nüchterner Verstandes-
Überlegung das Erdenleben zu regeln versuchte,
während Laotze das Mystische und Übersinnliche
betonte und dadurch die Ausartung zum Aber-
und Zauberglauben des Taoismus veranlaßte.
Später drangen neue Geistesströmungen aus den
älteren Kulturen des Südens und Westens nach
dem Osten, und vornehmlich der Buddhismus
wurde von ausschlaggebender Bedeutung.
Auf dieser geographischen und philosophi-
schen Grundlage entstand der chinesische Stil
der monochromen, impressionistischen Land-

schaftsmalerei, die unter der Herrschaft der Sung-
Kaiser (960 bis 1280) ihre Blütezeit erlebte.
Die Chinesen unterscheiden eine südliche und
eine nördliche Schule der Malerei, ohne daß diese
Bezeichnung irgend einen Zusammenhang mit
dem Wohnorte des Malers hat. Am klarsten ist
der Unterschied dieser beiden Richtungen bei der
Darstellung der Berge zu erkennen. Während
die Maler der Südschule ihre Landschaften mit
Bergeszügen in weiche runde Konturen ab-
schlossen, hat die Nordschule die Darstellung der
steil ragenden Felspartien bevorzugt (Tafel XXVI).
Die zackigen Formen und Zerklüftungen mit
ihren starken Umrissen und Schatten verlangten
einen harten Strich in kräftiger Pinselführung.
Die hohen Felsen füllen die Fläche des Bildes
in etwas monotonem aber grandiosem Aufbau.
Der Ernst dieser einsam steilen Berge spiegelt
sich in der ganzen Auffassung und Komposition
wieder; es ist etwas Feierliches in der Stimmung.
Die Linienführung der Silhouetten wurde stark
betont, während die südliche Schule die mehr
weich verlaufenden Linien von Gebirgen in zarten
Akkorden bevorzugte. Der Norden schuf eine
Kunst der erhebenden Betrachtung und philo-
sophischen Speculation, während der Süden
Frühlingsstimmungen des Genießens malte.
In den unwirtlichen Bergen lebten die chine-
sischen Weisen und Dichter. In die Natur sich
zurückziehen und dem Rauschen der Wasser und
der Bäume zu lauschen oder von der Bergeshöhe in
die weiten Täler hinabzuschauen und seinen philo-
sophischen Spekulationen nachzuhängen, wurde
ein Ideal des Volkes. Kaiser und Beamte ent-
sagten in frühem Alter ihren Staatsgeschäften,
um sich in die Einsamkeit der Berge zurückzu-
ziehen. Auch die Römer flüchteten aus der Stadt
in die Natur, aber ihr nüchterner, geschäftiger
Geist ließ sie die Felder der Ebene bestellen,
während der philosophierende Chinese die Natur
in ihrer Ruhe und Poesie liebte; er wollte nicht
arbeiten, sondern träumen. Diese Liebe zu der


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