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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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2. Heft
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Schwitters, Kurt: Familie Hahnepeter III: Das Paradies auf der Wiese
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0044

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Fam. Hahnepeter 111:
DAS PARADIES AUF DER WIESE
ALSO, Ihr wißt alle, daß alle Freunde Hahne-
manns ein Ei vom Hahnepeter bekommen
hatten. Und als Hahnemann nun immer
Briefe aus dem Paradiese schickte, da wollten
alle auch gern ins Paradies, Darum gingen
sie zu Hahnemanns Mutter und fragten die,
wie es denn Hahnemann gemacht hätte. Die
Blume, die seinerzeit Hahnemanns Ei aus-
gebrütet hatte, war tot, weil sie aus Kummer
über Hahnemanns Abwesenheit gestorben
war. Ihre Zweige hingen jedenfalls schlaff
herab. Oder ob sie beim Ausbrüten gestor-
ben war? Vielleicht mußten alle sterben, die
Hahnepetereier ausbrüten wollten? Ob nun
die anderen Blumen solche Eier ausbrüten
konnten, wußte niemand. Darum fragte die
Mutter brieflich bei Hahnemann im Paradiese
an, ob denn er nicht wüßte, wer denn nun die
anderen Hahnepetereier ausbrüten könnte.
Aber Hahnemann ließ durch Onkel Unge-
flochten zurückschreiben: ,,., , selbst Onkel
Pluvinel, ja sogar Onkel Ungeflochten selbst
wissen es nicht, wer dort die Eier vom Hahne-
peter ausbrüten kann. Und Onkel Gustav,
den Ihr noch nicht kennt, sagt, wer die Eier
ausbrütete, müßte sterben, ob das eine Blume
oder eine Mücke wäre ,,.“ Da waren alle
Kinder sehr traurig und gingen mit ihren
Eiern nach Hause. Daß aber eine Mücke
solch ein großes Ei ausbrüten könnte, glaubte
keiner. Und sie verwahrten die Eier gut,
denn einmal würde doch vielleicht eine» die
Eier ausbrüten kommen.
Nun war da ein kleiner Bube, der hieß Ernst.
Und Ernst sagte, er wollte schon ins Paradies
hinein, selbst auch ohne Paradiesvogel, ja, er
wüßte sogar hinzufinden, es wäre gar nicht
so weit, Anfangs wollte es ihm keiner glau-
ben, aber er sagte es so lange, bis die Mutter
mitging. Da wollten alle Kinder auch mit.
Aber Ernst wollte niemand mitnehmen, nur
die kleine Else. Denn Else war ein besonders
feines Kind, war groß und schlank und hatte
überall Schleifchen, wo sie hinpaßten und wo
nicht. Ihr Kopf war ganz dünn und lang und
sah wie auf Draht gezogen aus. Darum
mochte Ernst sie auch so gerne leiden. Und
nun gingen die drei los, Ernst, seine Mutter
und Else, Ernst sagte, es wäre ganz nah,
eben den Feldweg am Hause herunter. Und

so gingen sie den Feldweg am Hause herunter.
Und plötzlich sagte Ernst: „Hier müssen wir
durch, hier ist die Pforte des Paradieses.“
„Ja, aber das ist ja eine ganz gewöhnliche
Pforte von einer Kuhweide“, sagte die Mutter.
„Schrei doch nicht so,“ sagte Ernst, „das
täuscht, das sieht bloß so aus, hier müssen wir
trotzdem durch.“ — „Aber ich zerreiße mein
Kleidchen am Stacheldraht“, sagte Else, „ich
muß draußen bleiben.“ — Aber Ernst be-
ruhigte sie, das wäre kein Stacheldraht, so
etwas gäbe es im Paradiese nicht; das wären
alles Girlanden, wie beim Sängerfest. Und
nun gingen die drei durch die Tür mit den
Girlanden auf die große Wiese. Und Ernst
sagte: „Hier sind wir nun mitten im Para-
diese. Seht doch nur den Himmel an, das
pure Gold.“ — „Und nun habe ich in einen
Kuhklak hineingetreten“, sagte Else. Aber
Ernst beruhigte sie, das wäre kein gewöhn-
licher Kuhklak, das wäre reiner Honig-
pudding. Aber sie sollte lieber nicht zuviel
davon essen, denn es gäbe noch viel was
Besseres. Und nun zeigte Ernst die pracht-
vollen Blumen und fragte: „Habt ihr über-
haupt schon jemals so schöne Blumen ge-
sehen?“ „Aber das sind ja ganz gemeine
Kuhblumen“, sagte die Mutter. Aber jetzt
zeigte ihnen Ernst die Lippizaner Hengste,
von denen Hahnemann immer in seinen Brie-
fen geschrieben hatte. — „Aber das sind doch
Kühe“, sagten wie aus einem Munde die
Mutter und Else. „Nun“, sagte Ernst, „da
kommt ja schon Onkel Pluvinel,“ — „Nein,
nein“, sagte die Mutter, „du irrst, das ist der
Bauer, der die Kühe von seiner Wiese heim-
treiben will.“ — „Nein“, sagte Ernst, „siehst
du denn nicht seine weiße Lockenperücke,
genau wie Onkel Pluvinel.“ Aber die Mutter
sagte: „Kommt nur schnell, Kinder, der Bauer
kommt über die Wiese direkt auf uns zu.
Man kann nicht wissen, was er will.“ „Ach
was“, sagte Ernst, „der geht nicht auf uns zu,
der geht doch auf die Lippizaner Hengste zu,
er will sie dressieren. Seht ihr nicht, er hat
schon die Longe in der Hand.“ — „Ja, Tante“,
sagte Else, „er geht nach den Kühen.“ —
„Und jetzt habe ich auch in einen Kuhklak
getreten“, sagte die Mama. Und tatsächlich
hatte sie mitten hineingetreten in einen
großen Kuhklak, und nun wollte sie überhaupt
nicht mehr glauben, daß das das Paradies
wäre. Aber Ernst sagte es so bestimmt, daß
das doch und doch das Paradies wäre, sonst

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