Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

DOI Heft:
6. Heft
DOI Artikel:
Wauer, William: Das entdeckte Gehirn, [3]
DOI Artikel:
Schreyer, Lothar: Gespräch von der Freundschaft
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0123

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Weil alle diese Worte personifizierte Be-
zeichnungen sind, die unserer fortgeschritte-
nen Erkenntnis nicht mehr entsprechen.
Die Bedingungskomplexe „Ursache“ zu
nennen, ist falsch, schon aus dem Grunde,
weil die Ursache linear und nicht komplex
wirkt;
die Zwangsläufigkeit aus Bewußtsein „Ge-
setz“ zu nennen, ist irreführend, weil unend-
lich wechselnde Zwangsläufigkeiten keine
Gesetze dulden;
die eindeutige Bestimmtheit aus Bedingtheit
„Zweckmäßigkeit“ zu nennen, ist schief, weil
die Entwicklung getrieben, aber nicht ge-
zogen und erzogen wird.
„Seele“ aber ist die Komplexbezeichnung
der Bedingungen der Wahrnehmungswirk-
lichkeit unserer Sinne; die Gesamtwirksam'
keit der sinnlichen Organe und ihrer Funk-
tionen; die Gemeinwirtschaft des Denkens
und der Sinne im menschlichen Gehirn.
„Ich“ ist die Bezeichnung des Bedingungs-
komplexes aller Gehirnfunktionen, die wir
Erkennen und Bewußtwerden nennen. Ich
ist die Lokalisation des Bewußtseins.
Alle diese Komplexe müssen, wenn sie wis-
senschaftlicher Untersuchung standhalten
sollen, organisch bedingt sein, also auf orga-
nischen Grundlagen sich aufbauen. Sie müs-
sen eben Organfunktionen oder selbst Organe
sein.
Seele und Ich sind Zusammenfassungen von
Organauswirkungen — Resultate von Organ-
funktionen, die ihrerseits wieder mehr oder
weniger geschlossene Organisationen sind,
also deutlich unterscheidbare Bedingungs-
komplexe besonderer Art.
„Kausalität“ ist kein organisch zu begrün-
dender Bedingungskomplex; ebensowenig
haben die „Naturgesetze“ irgend ein Organ,
das sie schafft und stabilisiert; noch weniger
ist' die „Zweckmäßigkeit“ ein organisch ir-
gendwie begründetes Funktionsprinzip des
Seins.
Kein Organ funktioniert, weil seine Funktion
zweckmäßig ist — das hieße die Natur auf
den Kopf stellen. Die Organe funktionieren
aus eindeutig durch ihre Bedingtheit gegebe-
nen Zwang.
Nichts ist im Organischen absolut und kon-
stant — alles unterliegt den unendlich wech-
selnden Rhythmen des Stoffwechsels.
Auch die Seele, auch das Ich — auch das
Denken. Darüber möchte ich mich in meiner

nächsten Vorlesung an Hand der geschicht-
lichen menschlichen Denkleistungen mit
Ihnen weiterhin auseinandersetzen.

Gespräch von der Freundschaft
Der Jünger: Ich habe einen Freund ver-
loren.
Der Meister: Es ist nicht möglich, einen
Freund zu verlieren.
Der Jünger: Er hat mich verlassen.
Der Meister: Wenn er dich verlassen
hat, so hast du ihn nicht verloren.
Der Jünger: Ich liebe ihn wohl. Aber
er liebt mich nicht mehr.

Der
Meister
: Irrtum über Irrtum.
Der
Jünger :
Hilf.
Der
Meister
: Wozu.
Der
Jünger:
Zum Freund.
Der
Meister
: Das ist nicht nötig.
Der
Jünger:
Zur Wahrheit.
Der
Meister
: Wir sind Menschen.
Der
Jünger:
Nicht menschlich ist die

Wahrheit. Unmenschlich sind die Freunde.
Der Meister : Hilf dir selbst.
Der Jünger: Wozu.
Der Meister: Zum Erkennen deines
Irrtums.
Der J ü n g e r : Ich irre nicht, wenn ich an
die Freundschaft glaube.
Der Meister: Warum glaubst du.
Der Jünger: Weil ich erfahren habe.
Der Meister: Was hast du erfahren.
Der Jünger Freundschaft.
Der Meister: Was ist das.
Der Jünger: Eine Wirkung der Liebe.
Der Meister: Wie ist das.
Der Jünger: Es gibt verschiedene Wir-
kungen der Liebe. Eine Wirkung der
Liebe heißt Freundschaft.
Der Meister: So wäre also die Liebe
die Ursache der Freundschaft.
Der Jünger: Ja.
Der Meister: Du meinst also, daß die
Freundschaft eine Wirkung der Liebe wäre
und die geschlechtliche Liebe eine andere
Wirkung der Liebe wäre.
Der Jünger: So ist es.
Der Meister: Was hältst du nun für die
Liebe, die der Freundschaft und der ge-
schlechtlichen Liebe Ursache ist.

87
 
Annotationen