Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

DOI issue:
9. Heft
DOI article:
Blümner, Rudolf: August Stramm: Zu seinem zehnjährigen Todestag
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0165

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DER STURM
MONATSCHRIFT / HERAUSGEBER: HERWARTH WALDEN

August Stramm
Zu seinem zehnjährigen Todestag
Gefallen am I. September 1915
Rudolf Blümner
Einigen wird nicht entgangen sein, daß ich
zehn Jahre eines nicht mehr jugendlichen
Lebens, soweit ich es künstlerisch einsetzen
konnte, der Laut-Werdung einer neuen Dich-
tungsweise gewidmet habe, die man im
ursprünglichen, engen und radikalen Sinn die
expressionistische nennt. Und da ich die
Zahl derer, die es wissen, nicht überschätzen
will, setze ich ausführlicher hinzu, daß zu
Anfang und zu Ende und in der Mitte dieser
zehnjährigen Verkündung die lyrischen
Dichtungen standen, die August Stramm der
Welt ließ, als er am 1. September 1915 in
Rußland gefallen war. Es ist nicht diese lange
und vielfältige Beschäftigng mit den Dichtun-
gen August Stramms, die mich, und gar in
besonderem Maße, berechtigen oder befähigen
könnte, für einen vortrefflichen Kenner und
Beurteiler dieser Dichtungen gehalten zu
werden. Vielmehr muß ich, wenn ich etwas
ähnliches für mich in Anspruch zu nehmen
scheine, die üblichen Grenzen der Beschei-
denheit aus Gründen überschreiten. Und ich
will dabei hoffen, daß ich nicht so sehr als
unbescheiden bekannt bin, als daß man hierin
überhaupt eine Unbescheidenheit erblicken
möchte. Nicht das Geschehen, daß ich zehn
Jahre lang August Stramms Dichtungen vor-
getragen habe, sondern die Klangform, in der
es geschehen ist, hat mich befähigt, in
Stramms Dichtungen einen Blick zu tun, der,
wenn ich ihn nicht einen tieferen nennen soll,
doch von einer andern Art ist, als er den
Meisten vergönnt sein kann.
Seit zwanzig Jahren habe ich für den Schau-
spieler wie für den Vortragskünstler die Ge-
setze seines Schaffens anders formuliert, als
es selbst heute noch die Allgemeinheit derer
zugibt, die hierin aktiv oder passiv als Sach-

verständige gelten. Ich habe die Torheit
einer reproduzierenden Kunst geleugnet und
für den Schauspieler und Vortragskünstler
die Selbständigkeit einer produzierenden
Kunst in Anspruch genommen. Die Festig-
keit meiner Erkenntnis war nie dadurch er-
schüttert worden, daß der überwiegende Teil
der gesamten früheren Dichtung sich einer
Gestaltung widersetzte, die ich allein für
wertvoll und berechtigt erkannte. Vielmehr
hat das Mißlingen in mir nur Zweifel an der
früheren Dichtung geweckt, bis die Dichtung
August Stramms mich in dem überzeugt hat,
was durch Tradition bei mir so mangelhaft
bezeugt gewesen war. Eine Einsicht, zu der
jeder durch absolutes Denken gelangen kann
und die bei mir schon die Unberührbarkeit
eines Axioms erreicht hatte, war von einem
Dichter bestätigt worden. Und ich selbst
konnte sie fortan an seinen Dichtungen be-
stätigen. Es ist ein merkwürdiger und neuer
Weg zur Erkenntnis dichterischer Werte,
und es fiele mir nicht ein, ihn zu zeigen, wenn
er nicht gar so seltsam und des Merkens
würdig wäre. Denn daß er nicht der einzige
Weg zur Erkenntnis der Stramm’schen Dich-
tung ist, kommt keinem Einwand gleich.
Eher schon die platte Bemerkung, daß eine
Dichtung, die meiner Art zusagt, anderen
nicht zu gefallen braucht, oder daß der
sprachliche Ausdruck, für den ich Töne und
Melodien habe, andere stumm läßt, die doch
auch nicht auf den Mund gefallen sind. Aber
keine Art von Bescheidenheit kann mich vor
der Erkenntnis schützen, daß die Form, in
der ich August Stramms Dichtungen vor-
trage, an das innere Ohr auch jener gerührt
hat, die aus Gewohnheit, Trägheit oder gar
aus vorgenommener Gegnerschaft gesträub-
ten Geistes zuhören. Und also wäre es
mein Verdienst? Und nur mein Verdienst,
wenn August Stramms Dichtungen wenig-
stens denen erschlossen wurden, die sie aus
meinem Mund gehört haben. Aber ist es

121
 
Annotationen