Eine kleine Streitschrift über
die Dirne
Erasmus
Ich zeichne diese streitbaren Zeilen nicht mit
meinem bürgerlichen Namen, weil sie unper-
sönlich sein wollen. Das Anonymat schließt
beim Schreiber und Leser eher die Vorurteile
aus. Diese Parerga und Paralipomena zur
käuflichen Liebe sind in Paris geschrieben
worden, in der Stadt, wo das Dirnentum die
ästhetischsten aber auch die gewalttätigsten
Formen angenommen hat. Ich sage das, um
manche Einzelheiten zu situieren.
1
Der sentimentale Dirnenroman mit sogenann-
ter Welten-Schonungsperspektive ist zu
verachten, weil er einer Abfallserscheinung
des Lebens eine Bedeutung gibt, die sie im
Gemüt der sozialen Schwärmer feicht zur
Norm steigert. Das ist auch für Charles-
Louis-Philippe gesagt. Der kraß-realisti-
sche Dirnenroman ist zu verachten, weil man
seit einem halben Jahrhundert gründlich
über alles drum und dran Bescheid weiß. Es
genügt, mit dem nötigen Sinn für Wahr-
haftigkeit das Dirnentum zu betrachten, um
einzusehen, daß es keine moralische, keine
soziale Angelegenheit ist, sondern eine Le-
bensweise und ein Beruf, die nicht besser
und nicht schlechter sind als alle die anderen.
Dann gelangt man dahin, wohin man gelan-
gen muß, zur Aesthetik und zur Hygiene, zur
Berufsästhetik und Berufshygiene. Diese
Aphorismen sind der schwache Versuch
einer Anbahnung zu dieser Umstellung.
2
Die Verächter des Dirnentums unter den
Männern räsonnieren und handeln aus Eifer-
sucht. Aus Eifersucht gegen das weibliche
Geschlecht. Die Männer sind ärgerlich da-
rüber, daß die Weiber den Verkauf der Ge-
nüsse, den sie mit ihrem Körper spenden
können, in eine soziale Form gebracht haben
und daß diese Form, die Jahrtausende alt ist,
ihnen es erleichtert, einen Käufer für ihre
Reize zu finden. Während die Männer in
dem Fall, wo sie mit ihrer Geschlechtskraft
Handel treiben wollen, noch immer nicht
recht wissen, wie sie sich anstellen sollen
und dem Zufall ausgeliefert sind. Es ist aber
nichts Lächerlicheres als diese moralische
Entrüstung der Männer über die Dirne, denn
die Männer haben aus reiner Verlegenheit
das Prinzip der Geschlechtskäuflichkeit in
die Ehe gebracht, indem der Bettzins in Ge-
stalt der Mitgift der Frau erhoben wird.
3
Daß das Dirnentum seinen Einzug in die Ehe
halten konnte — vor allem durch die Kom-
plizität des Mannes — es ist der beste Be-
weis dafür, daß es eine Institution in der un-
geschriebenen Verfassung der menschlichen
Gesellschaft ist. Dirnen, Dirnen . . . jawohl,
das kennen wir — so sagen diese Leute! —
Das treibt sich in Tag- und Nachtlokalen, auf
Bürgersteigen und an Straßenecken herum,
wackelt mit dem Steiß, schminkt, färbt, koh-
let und erhimmelt sich über die Maßen, ver-
schachert seinen gottgesegneten Leib und
endet im besten Falle als Bordeileiterin oder
Abortfrau. So urteilt man, wenn man die
Proletarierinnen der käuflichen Liebe für den
reinsten Ausdruck des Typus nimmt. Man
kann aber leicht erfahren, daß der Typus sich
am raffiniertesten da realisiert, wo die
Aeußerlichkeiten reduziert sind, und das ist
gei^de in ganz bestimmten Ehen. Es fehlte
dabei nur noch die Freizügigkeit, die die
Erleichterung der Ehescheidung glücklich
gebracht hat.
4
Aber lassen wir das! Die männliche Dirne
interessiert auch hier nur nebenbei, weil ihre
Charaktermerkmale trotz allem noch nicht
scharf genug ausgeprägt sind. Ich halte mich
beinahe ausschließlich an die weibliche
Dirne. Die Geschmeidigkeit, mit der das
weibliche Dirnentum ausgeübt wird, scheint
mir eine Revanche für das, was die Männer
seit dem Adam- und Eva-Paradies an der
Frau verbrochen haben. Es ist die natürliche
Revanche gegen die Herrschsucht des Man-
nes, der sich ein Genußobjekt als Eigentum
leisten will. Nun, dann soll er zahlen! Da
er direkt oder indirekt mit seiner Arbeit zah-
len muß, hat die Frau ihn zu ihrem Sklaven
gemacht. Die Männer sind sonderbare Herren
der Schöpfung!
5
Die Entrüstung der „anständigen“, auf die
Ehe hin trainierten Frau über die Dirnen ist
auch nicht viel weiter als das Geständnis
eines „Non possumus“. Das wäre ihnen be-
die Dirne
Erasmus
Ich zeichne diese streitbaren Zeilen nicht mit
meinem bürgerlichen Namen, weil sie unper-
sönlich sein wollen. Das Anonymat schließt
beim Schreiber und Leser eher die Vorurteile
aus. Diese Parerga und Paralipomena zur
käuflichen Liebe sind in Paris geschrieben
worden, in der Stadt, wo das Dirnentum die
ästhetischsten aber auch die gewalttätigsten
Formen angenommen hat. Ich sage das, um
manche Einzelheiten zu situieren.
1
Der sentimentale Dirnenroman mit sogenann-
ter Welten-Schonungsperspektive ist zu
verachten, weil er einer Abfallserscheinung
des Lebens eine Bedeutung gibt, die sie im
Gemüt der sozialen Schwärmer feicht zur
Norm steigert. Das ist auch für Charles-
Louis-Philippe gesagt. Der kraß-realisti-
sche Dirnenroman ist zu verachten, weil man
seit einem halben Jahrhundert gründlich
über alles drum und dran Bescheid weiß. Es
genügt, mit dem nötigen Sinn für Wahr-
haftigkeit das Dirnentum zu betrachten, um
einzusehen, daß es keine moralische, keine
soziale Angelegenheit ist, sondern eine Le-
bensweise und ein Beruf, die nicht besser
und nicht schlechter sind als alle die anderen.
Dann gelangt man dahin, wohin man gelan-
gen muß, zur Aesthetik und zur Hygiene, zur
Berufsästhetik und Berufshygiene. Diese
Aphorismen sind der schwache Versuch
einer Anbahnung zu dieser Umstellung.
2
Die Verächter des Dirnentums unter den
Männern räsonnieren und handeln aus Eifer-
sucht. Aus Eifersucht gegen das weibliche
Geschlecht. Die Männer sind ärgerlich da-
rüber, daß die Weiber den Verkauf der Ge-
nüsse, den sie mit ihrem Körper spenden
können, in eine soziale Form gebracht haben
und daß diese Form, die Jahrtausende alt ist,
ihnen es erleichtert, einen Käufer für ihre
Reize zu finden. Während die Männer in
dem Fall, wo sie mit ihrer Geschlechtskraft
Handel treiben wollen, noch immer nicht
recht wissen, wie sie sich anstellen sollen
und dem Zufall ausgeliefert sind. Es ist aber
nichts Lächerlicheres als diese moralische
Entrüstung der Männer über die Dirne, denn
die Männer haben aus reiner Verlegenheit
das Prinzip der Geschlechtskäuflichkeit in
die Ehe gebracht, indem der Bettzins in Ge-
stalt der Mitgift der Frau erhoben wird.
3
Daß das Dirnentum seinen Einzug in die Ehe
halten konnte — vor allem durch die Kom-
plizität des Mannes — es ist der beste Be-
weis dafür, daß es eine Institution in der un-
geschriebenen Verfassung der menschlichen
Gesellschaft ist. Dirnen, Dirnen . . . jawohl,
das kennen wir — so sagen diese Leute! —
Das treibt sich in Tag- und Nachtlokalen, auf
Bürgersteigen und an Straßenecken herum,
wackelt mit dem Steiß, schminkt, färbt, koh-
let und erhimmelt sich über die Maßen, ver-
schachert seinen gottgesegneten Leib und
endet im besten Falle als Bordeileiterin oder
Abortfrau. So urteilt man, wenn man die
Proletarierinnen der käuflichen Liebe für den
reinsten Ausdruck des Typus nimmt. Man
kann aber leicht erfahren, daß der Typus sich
am raffiniertesten da realisiert, wo die
Aeußerlichkeiten reduziert sind, und das ist
gei^de in ganz bestimmten Ehen. Es fehlte
dabei nur noch die Freizügigkeit, die die
Erleichterung der Ehescheidung glücklich
gebracht hat.
4
Aber lassen wir das! Die männliche Dirne
interessiert auch hier nur nebenbei, weil ihre
Charaktermerkmale trotz allem noch nicht
scharf genug ausgeprägt sind. Ich halte mich
beinahe ausschließlich an die weibliche
Dirne. Die Geschmeidigkeit, mit der das
weibliche Dirnentum ausgeübt wird, scheint
mir eine Revanche für das, was die Männer
seit dem Adam- und Eva-Paradies an der
Frau verbrochen haben. Es ist die natürliche
Revanche gegen die Herrschsucht des Man-
nes, der sich ein Genußobjekt als Eigentum
leisten will. Nun, dann soll er zahlen! Da
er direkt oder indirekt mit seiner Arbeit zah-
len muß, hat die Frau ihn zu ihrem Sklaven
gemacht. Die Männer sind sonderbare Herren
der Schöpfung!
5
Die Entrüstung der „anständigen“, auf die
Ehe hin trainierten Frau über die Dirnen ist
auch nicht viel weiter als das Geständnis
eines „Non possumus“. Das wäre ihnen be-