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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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7. u. 8. Heft
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Wauer, William: Das entdeckte Gehirn, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0144

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UNIVERSITÄTS¬
BIBLIOTHEK
BERLIN

Das entdeckte Gehirn
William Wauer Fortsetzung
Die Denkleistungen der Menschheit
Nachdem ich Ihnen in meiner ersten Vorle-
sung über das physische und psychische Phä-
nomen „Denken“ dargelegt und erklärt
habe, unter welchen Bedingungen „Denken“
zustande kommt und wie es stattfindet,
möchte ich Ihnen heute zeigen, wie sich das
ganze Menschheitsdenken aus denselben Be-
dingungen heraus in gleicher Weise ent-
wickelt und eindeutig bestimmt zwangsläufig
vollzogen hat.
Alle alten menschlichen Denkleistungen — ob
wir sie heute noch anerkennen oder nicht —
sind aus derselben physischen Bedingtheit
herausgewachsen, wie unser modernes Den-
ken auch; sie tragen alle Merkmale dieser
Bedingtheit als Summe ihrer Auswirkungen,
mit der sie identisch sind.
Als die Bedingungen des Denkens hatten wir
festgestellt:
die Wirklichkeit,
die Wirklichkeitswahrnehmung,
die Gehirnfunktion,
die Sinne,
die Ausschleifung von Gehirnbahnen,
Auslese und Anpassung von Unbekanntem an
Bekanntes durch den Gehirnstoffwechsel,
die Möglichkeit der Rückbeziehung zu bereits
Gedachtem,
die Gedächtnisbildung durch Umschichtung
der Neuronen,
Trieb- und Willensimpuls als Entlastungs-
drang von Nervenreizen, geistige Begabung;
die Umwandlung der Wirklichkeitsform der
Wahrnehmung in die abstrakte Form einer
sinnvollen Laut Wirklichkeit.
Wir hatten uns klar gemacht, daß nach Er-
füllung all dieser Bedingungen der sprachge-
staltete Gedanke als aus ihnen entstan-
den vorhanden ist.
Unter Bedingungen hatten'wir die Elemente
des „Dinges“ verstanden, aus denen es zu-
sammengesetzt ist, wie jedes Ganze aus sei-
nen Teilen.
Ich hatte Ihnen weiter bewiesen, daß bei der
Analyse des Denkens nur das organisch Be-
dingte wissenschaftlicher Untersuchung
standhält, daß nur Organe, Organfunktionen
und Organisationen von Organen und Organ-
funktionen, organische Komplexe feststellbar

sind, beobachtet und geprüft werden können,
also organische Mechanismen.
Ich hatte Ihnen klar gemacht, daß biosophi-
sches Denken aus diesem Grunde es a b 1 e h -
nen müsse, „Kausalität“, „Naturgesetze“
und die „Zweckmäßigkeit“ des Geschehens
als wissenschaftlich in Betracht kommende
Tatsache zu bezeichnen.
Es sei falsch, Bedingungskomplexe „Ursache“
zu nennen, schon aus dem Grunde, weil die
Ursachenwirkung linear und nicht komplex
gedacht würde;
es sei irreführend, Zwangläufigkeit aus Be-
dingtheit „Naturgesetze“ zu nennen, weil un-
endlich wechselnde Zwangläufigkeit Gesetze
einfach nicht duldet;
es sei schief, die eindeutige Bestimmtheit aus
Bedingtsein „Zweckmäßigkeit“ zu nennen,
weil alle „Entwicklung“ aus sich ge-
trieben, aber nicht von einem Außerihr,
einem Ziel, gezogen wird.
Schließlich hatten wir uns noch darüber ver-
ständigt, daß „Seele“ und „Ich“ eigenartige
Funktionszusammenhänge und Zusammen-
fassungen seien, die Seele als die Be-
zeichnung des Bedingungskomplexes der
Wahrnehmungswirklichkeit unsrer Sinne und
ihrer Gesamtwirksamkeit und Gemeinwirt-
schaft mit dem Denken im menschlichen Ge-
hirn ;
das „Ich“ als die Bezeichnung des Bedin-
gungskomplexes aller Gehirnfunktionen, die
wir Erkennen und Bewußtwerden nennen.
Endlich hatte ich das Ich als die „Lokalisa-
tion“ des Bewußtseins bezeichnet.
Für diese Behauptung bin ich Ihnen den Nach-
weis ihrer organischen Unterlage noch
schuldig.
Mit der Untersuchung der organischen Be-
dingtheit der Konzentration des mensch-
lichen Bewußtseins um das Ich und in das Ich
nehme ich unsre heutige Erörterung auf, um
sie auf die menschliche Denkleistung im Gan-
zen auszudehnen.
Das lebendige Werden des menschlichen Den-
kens in seinen Hauptzügen will ich Ihnen
vorführen.
Zunächst müssen wir uns mit dem Denk-
organ und seiner Arbeitsweise, das
heißt mit seiner physischen und physika-
lischen Tätigkeit näher vertraut machen.
Es handelt sich nicht mehr darum, die Ar-
beitsweise des Gehirns feststehend zu schil-

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