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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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6. Heft
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Wauer, William: Das entdeckte Gehirn, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0122

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Wir betreten das bedeutsame Gebiet der
so hoch geschätzten menschlichen Gehirn-
arbeit.
Was ist Geist?
Geist ist Talent, Veranlagung zum Denken,
Denkfähigkeit, Denkbegabung. Diese Be-
gabung gehört naturgemäß auch zu den Be-
dingungen des Denkens. Der denkende
Mensch muß Geist haben.
Geist ist natürlich ein relativer Begriff. Jeder
einzelne Mensch hat mehr oder weniger.
Schließlich verstehen wir aber unter einem
geistigen Menschen einen. solchen, der das
Denken mit besonderem Erfolg ausübt.
Eine auszeichnende Fähigkeit im Bilden von
Erkenntnissen und Beziehungen zwischen ab-
strakten Vorstellungen, Begriffen und Emp-
findungen bedingt den Denker von Rang. Er
gilt für den höchsten Typus der Menschheit.
Er verfügt über das meiste Denkmaterial una
leistet die größte Gehirnarbeit. Er gestaltet
Gedanken.
Nicht erst der Dichter gestaltet das Denken.
Der Dichter gestaltet das Denken, das von
ihm Gedachte, bewußt nach den Gesetzen
der Kunst. Der Denker nicht.
Es gibt aber kein ungestaltetes Denken, das
wirklich Denken ist, weil solches ohne Ge-
staltung völlig formlos, unfaßbar und undeut
bliebe.
Alles bewußte Denken ist gestaltet.
In welchem Material aber gestaltet sich
Denken? Wie gewinnt es Form? Wie wird
Denken „Gedanke“?
Gedanken sind geformtes Denken 1
Das Material der gedanklichen Formung ist
die Lautwirklichkeit der Sprache.
Alles Denken ist mindestens — gedachte
Sprache; immer mindestens lautloses Selbst-
gespräch.
Man vermag ohne Sprachgestaltung nicht be-
wußt zu denken.
Das Denkmaterial ist, wie wir wissen, im
Anfang Wahrnehmungswirklichkeit — nach
der Abstraktion von ihr wird es Sprachwirk-
lichkeit.
Denn aus der Wirklichkeit kommt der
Mensch nie hinaus, auch nicht mit Denken.
Nur aus der Zufallswelt der dinglichen Wirk-
lichkeit hebt das Denken die Sinnenwelt in
eine Sinnwelt absichtlicher Wirklichkeit der
Gedanken.
Sinnträger in der Gedankenwelt sind die

Lautgestalten, die Worte; als Sinnträger sind
sie bedeutsame Symbole.
Das Wortsymbol ist Vorstellungsbezeich-
nung, Begriffsabgrenzung, Empfindungsge-
fäß; dies alles nennen wir den Wortsinn.
Das Wort ist sichtbar im Schriftzeichen, be-
grifflich abgegrenzt und unterschieden durch
die gebildete Wortform, sinnvoll durch Ein-
ordnung an eine ihm in bestimmter und be-
stimmender Weise entsprechenden Stelle des
Bewußtseins.
Der sinnvoll empfundene Begriff als Wort-
symbol ist das Element der Gedankengestal-
tung.
Das Denken ist also letzhin von der Sprache
und der Sprachform bedingt.
Das Inbeziehungsetzen der Sprachelemente,
der Worte, untereinander geschieht „lo-
gisch“, das heißt analog unsren Wirklich-
keitserfahrungen aus Wahrnehmung — also
bedingt und zwangläufig, wie alles Naturge-
schehen.
Die Sprachbedingungen haben wir in Regeln
gebracht, die wir grammatikalische nennen.
Logisch ist also nur grammatikalisch richtige
Sprachbildung, weil eine unlogische auch
unnatürlich wäre.
Ich fasse zusammen:
Das Denken ist bedingt von der Wirklichkeit,
der Wirklichkeitswahrnehmung und der Ge-
hirnarbeit; es ist bedingt von den Sinnen
von der Möglichkeit, Beziehungen zu bereits
Gedachtem anzuknüpfen, von der Ausschlei-
fung der Gehirnbahnen, von der Bewußt-
seinsbildung als der Umschichtung der Neu-
ronen und Gehirnzellen, von mehr oder we-
niger Impuls und Begabung. Es ist bedingt
von Auslese und Anpassung. Vom Stoff-
wechsel. Es ist bedingt von der Umwand-
lung der Wirklichkeitsform der Wahrneh-
mung in die abstrakte Form einer sinnvollen
Lautwirklichkeit.
Sind alle diese Bedingungen erfüllt, so ist der
sprachgestaltete Gedanke da.
Ich habe Ihnen damit, wie ich glaube, das
physische und psychische Phänomen des
Denkens in seiner Bedingtheit in der Haupt-
sache vorgeführt.
Sie sehen, wir sind bei dieser Untersuchung
und Feststellung weder auf „Kausalität“, noch
auf „Gesetze“, noch auf „Zweckmäßigkeit“
gestoßen, ja nicht einmal auf die mensch-
liche „Seele“ und das berühmte menschliche
„Ich“.

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