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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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6. Heft
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Schreyer, Lothar: Gespräch von der Freundschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0124

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Der Jünger: Die Liebe ist das Eins-
werden der Menschen.
Der Meister: Wie ist das möglich:
Der Jünger: Das läßt sich nicht sagen.
Der Meister: Ist es so unvernünftig.
Der Jünger: Nein. Es ist die Vernunft
selbst.
Der Meister: Das hast du recht ge-
sprochen.
Der Jünger: Alle Menschen sind in ihrer
Wesenheit als Menschen Menschen, also
einander gleich. In ihrer Eigenschaft als
Personen sind sie jedoch verschieden. Er-
kennen sich die Menschen als Menschen,
so erkennen sie ihre Gleichheit. Erleben
sie ihre Gleichheit, so werden sie Eins, so
lieben sie sich.
Der Meister: Wo dieses Einswerden
nicht stattfindet, da ist keine Liebe.
Der Jünger: Gewiß nicht.
Der Meister: Findet dieses Einswerden
in der geschlechtlichen Liebe statt.
Der Jünger: Das ist wohl möglich.
Der Meister: Also nicht immer.
Der Jünger: Wenigstens nicht immer
für immer.
Der Meister: Wie meinst du das.
Der Jünger: Die geschlechtliche Liebe
ist nur dann Liebe, wenn sich die Menschen
als Menschen erkennen. Sonst ist sie Wol-
lust. Die Wollust vergeht, aber die Liebe
vergeht nicht.
Der Meister: Kann, was Eins geworden
ist, nicht wieder vieles werden.
Der Jünger: Es scheint so, aber es ist
nicht so.
Der Meister: So ist das Viele nicht aus
dem Einen geworden.
Der Jünger: Das Viele sind nur ver-
schiedene Ansichten des Einen. Wie wir
eine Kugel von verschiedenen Seiten an-
sehen können und dabei viele einzelne An-
sichten haben, aber die Kugel als Eins be-
greifen, so kann das Eine nicht vieles wer-
den, weil es nie vieles war. Es scheint
vieles, solange wir irren.
Der Meister: Aber wir können ver-
gessen, was wir erkannt haben.
Der Jünger: Das können wir. Dann be-
greifen wir die Einheit nicht. Dann irren
wir.
Der Meister: Es ist also ein Irrtum,
wenn wir nicht lieben.
Der Jünger: Das ist es.

Der Meister: Und du sagst, daß die
Liebe nicht vergehen kann.
Der Jünger: Die Liebe kann nicht ver-
gehen. Aber der Irrtum kann vergehen.
Wir lieben, obwohl wir glauben, nicht zu
lieben. Und weil wir an unseren Irrtum
glauben, leiden wir.
Der Meister: So leiden wir in der ge-
schlechtlichen Liebe ah der Wollust.
Der Jünger: So ist es.
Der Meister: Und in der Freundschaft.
Der Jünger: In der Freundschaft leiden
wir an unserer Verschiedenheit.
Der Meister: Das hast du recht ge-
sprochen.
Der Jünger: Wir leiden.
Der Meister: Können wir unsere Ver-
schiedenheit ändern.
Der Jünger: Wir können unsere Ver-
schiedenheit ändern, indem wir uns in unse-
rer gleichen Wesenheit als Menschen be-
trachten und als Mensch erkennen.
Der Meister: Dadurch ändern wir
unsere Verschiedenheit nicht, sondern ach-
ten unsere Verschiedenheit gleich nichts.
Und sind dann als Menschen gleich.
Der Jünger: So meine ich es.
Der Meister: Es ist also gleichgültig für
die Freundschaft, daß die Menschen als
Personen verschieden sind.
Der Jünger: Es ist gleichgültig. Darin
besteht eben die Freundschaft, daß die
Liebe wirkt trotz der Verschiedenheit der
Personen.
Der Meister: Du bist sehr verschieden
von deinem Freund, der dich, wie du sagst,
verlassen hat.
Der Jünger: Wir haben als Personen
viel Gemeinsames und viel Verschiedenes.
Der Meister: Und als er etwas Ver-
schiedenes sah, verließ er dich wie du
sagst.
Der Jünger: So ist es. Aber ich er-
kenne jetzt schon, daß er mich nur seiner
Person nach verließ, und daß er mich sei-
nem Wesen nach als Mensch nicht ver-
lassen kann.
Der Meister: Es ist also Irrtum über
Irrtum zwischen euch. Du irrst, wenn du
glaubst, dein Freund habe dich verlassen.
Dein Freund irrt, wenn er an deiner
Freundschaft zweifelt, weil er eine Ver-
schiedenheit zwischen dir und sich er-

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