allerlei aus der Zeit seines Engagements am
Meininger Theater erzählte. Auch ging mir
grade in diesen Tagen durch den Kopf, daß
ich in der schönen Lage wäre, in der nächsten
Zeit mein fünfundzwanzigjähriges Bühnen-
jubiläum zu feiern, da ich am 16. Oktober 1900
zum ersten Mal am Meininger Hoftheater auf-
getreten war (avis au lecteur). Damals wurde
das Meininger Hoftheater von dem längst ver-
storbenen Intendanzrat Paul Richard gelei-
tet, der mein Onkel war und mit seinem wah-
ren Namen Paul Richard Blümner hieß. Er
hatte seinerzeit zu den sogenannten Säulen
des Meininger reisenden Hoftheaters gehört
und seinerseits den Octavio als eine seiner
Glanzleistungen angesehen. So kam es, daß
er mir vor fünfundzwanzig Jahren gleichzeitig
mit der Perrücke des Julius Cäsar und des
Cajetan aus der Braut von Messina auch die
Perrücke des Octavio mit den Worten dedi-
zierte: „Und das, lieber Rudolf, ist die be-
rühmte Octavio-Perrücke.“ Wenn mich die
Erinnerung nicht täuscht, habe ich sie nur ein
einziges Mal getragen, als ein Bauer in Anzen-
grubers Komödie „Die Trutzige“, da ich die
Worte zu sagen hatte: „Na, Zertinger, du
trinkst ja heut gar net.“ Später habe ich alle
Perrücken für eine Mark das Stück verkauft.
Nun wird es Freud besser sagen können als
ich, ob ich mit dieser Ausdeutung meines
Traumes auf dem richtigen Wege bin. Was
aber die kleine Rolle angeht, das Kerlchen,
den kleinen Mann, der sich eine Katunmütze
aufsetzen soll, so scheint mir der Sinn dieser
Träumerei wenig zweifelhaft. Denn da wird
es sich wohl um die träumerische Erscheinung
meiner schauspielerischen Vergangenheit han-
deln. Aus der Zeit einer einigermaßen konden-
sierten schauspielerischen Tätigkeit, die ich
am Deutschen Theater hatte, erinnere ich
mich, daß ich des öfteren Rollen nicht auffin-
den konnte, die mir doch bestimmt übergeben
worden waren. Hinterher fand ich sie regel-
mäßig in der Billettasche eines Anzugs, den
ich einige Zeit nicht getragen hatte. Es war
wirklich selten mehr als ein Satz, mit dem
ich mich der Kritik und der Ewigkeit einzuprä-
gen hatte. Aber warum sollte dieses kleine
Kerlchen einen so sonderbaren Text sprechen:
Razzia für den nämlichen Tonfall. Was den
Tonfall allein anbetrifft, so nimmt es mich
freilich nicht weiter Wunder, daß ich von ihm
träume. Denn ich nehme seit zwanzig Jah-
ren das Recht für mich in Anspruch, dem Ton-
fall der menschlichen Sprache durch zahl-
reiche wissenschaftliche Veröffentlichungen
eine größere Beachtung verschafft zu haben.
Ich nehme außerdem das Recht für mich in
Anspruch, daß ich der erste Schauspieler ge-
wesen bin, der den Tonfall als das dominie-
rende Material der Schauspielkunst erkannt
und bewußt benutzt hat. Ich weiß, daß auch
andere Schauspieler ihre Sprache melodisie-
ren, da sie das irgendwie doch schon tun
müssen, ob sie wollen oder nicht. Meine Lehre
sagt aber, daß ihr Tonfall von der Materie,
vom Stück, vom Inhalt, vom Satz und Sinn
gelenkt wird. Meinen Tonfall regiert nur der
Rhythmus. Ich habe in den letzten Wochen
vielfache Versuche gemacht, einigen Schau-
spielerinnen das schematische, ewig gleiche,
das immer nämliche (nämlich kommt näm-
lich von dem Wort Name) ihres Tonfalls, der
am Wort und am Sinn hängt, abzugewöhnen.
Es war vergeblich gewesen. Zwei Welten
standen sich sozusagen vis-ä-vis. Ich hatte
auch, um ein Geständnis abzulegen, in den
letzten Wochen unliebsame Gelegenheiten,
im Radio einige Herren und Damen ihren
ewig gleichen (nämlichen) Tonfall verbreiten
zu hören. „Meine Herrschaften“, rief ich,
„Sie sprechen ja alle Zeilen gleich. Sie geben
ja allen Gedichten den nämlichen Tonfall. Es
ist eine öffentliche Plage!“ Sie hörten mich
nicht und ich dachte, wenn man die Polizei
gegen diesen Tonfall zu Hilfe rufen könnte.
Man müßte eine Razzia auf diesen Tonfall
veranstalten. Dieser Tonfall, der ein öffent-
licher Skandal ist, müßte endlich einmal poli-
zeilich ausgehoben werden, wie eine Verbre-
cherbande. Man muß eine Razzia auf ihn
machen. Ja, auf ihn, auf ihn. Auf den
Tonfall. Warum aber, Gott im Himmel, träume
ich „für den Tonfall?“ Ich weiß es nicht. Ich
weiß es noch nicht. Es wird schon seinen
Grund gehabt haben. Razzia — auf. Viel-
leicht störte mich Musikalischen die Häufung
der Vokale. Razzia — für — ah, das klingt
phonetisch schon besser. Und nun zeigt sich,
daß mein Tonfall richtig war: flehend wie ein
Bettelmönch bat ich um Razzia, wie man sagt:
Gnade, oh Herr, Gnade für meine unschuldige
Tochter. Ich flehte um Razzia als um das ein-
zige Heilmittel gegen den ewig nämlichen
konventionellen Tonfall, um das einzige Heil-
mittel für, ja für den Tonfall. Ich be-
schäme Freud. „Razzia für den nämlichen
Tonfall“. Der Tonfall kommt von den Ster-
158
Meininger Theater erzählte. Auch ging mir
grade in diesen Tagen durch den Kopf, daß
ich in der schönen Lage wäre, in der nächsten
Zeit mein fünfundzwanzigjähriges Bühnen-
jubiläum zu feiern, da ich am 16. Oktober 1900
zum ersten Mal am Meininger Hoftheater auf-
getreten war (avis au lecteur). Damals wurde
das Meininger Hoftheater von dem längst ver-
storbenen Intendanzrat Paul Richard gelei-
tet, der mein Onkel war und mit seinem wah-
ren Namen Paul Richard Blümner hieß. Er
hatte seinerzeit zu den sogenannten Säulen
des Meininger reisenden Hoftheaters gehört
und seinerseits den Octavio als eine seiner
Glanzleistungen angesehen. So kam es, daß
er mir vor fünfundzwanzig Jahren gleichzeitig
mit der Perrücke des Julius Cäsar und des
Cajetan aus der Braut von Messina auch die
Perrücke des Octavio mit den Worten dedi-
zierte: „Und das, lieber Rudolf, ist die be-
rühmte Octavio-Perrücke.“ Wenn mich die
Erinnerung nicht täuscht, habe ich sie nur ein
einziges Mal getragen, als ein Bauer in Anzen-
grubers Komödie „Die Trutzige“, da ich die
Worte zu sagen hatte: „Na, Zertinger, du
trinkst ja heut gar net.“ Später habe ich alle
Perrücken für eine Mark das Stück verkauft.
Nun wird es Freud besser sagen können als
ich, ob ich mit dieser Ausdeutung meines
Traumes auf dem richtigen Wege bin. Was
aber die kleine Rolle angeht, das Kerlchen,
den kleinen Mann, der sich eine Katunmütze
aufsetzen soll, so scheint mir der Sinn dieser
Träumerei wenig zweifelhaft. Denn da wird
es sich wohl um die träumerische Erscheinung
meiner schauspielerischen Vergangenheit han-
deln. Aus der Zeit einer einigermaßen konden-
sierten schauspielerischen Tätigkeit, die ich
am Deutschen Theater hatte, erinnere ich
mich, daß ich des öfteren Rollen nicht auffin-
den konnte, die mir doch bestimmt übergeben
worden waren. Hinterher fand ich sie regel-
mäßig in der Billettasche eines Anzugs, den
ich einige Zeit nicht getragen hatte. Es war
wirklich selten mehr als ein Satz, mit dem
ich mich der Kritik und der Ewigkeit einzuprä-
gen hatte. Aber warum sollte dieses kleine
Kerlchen einen so sonderbaren Text sprechen:
Razzia für den nämlichen Tonfall. Was den
Tonfall allein anbetrifft, so nimmt es mich
freilich nicht weiter Wunder, daß ich von ihm
träume. Denn ich nehme seit zwanzig Jah-
ren das Recht für mich in Anspruch, dem Ton-
fall der menschlichen Sprache durch zahl-
reiche wissenschaftliche Veröffentlichungen
eine größere Beachtung verschafft zu haben.
Ich nehme außerdem das Recht für mich in
Anspruch, daß ich der erste Schauspieler ge-
wesen bin, der den Tonfall als das dominie-
rende Material der Schauspielkunst erkannt
und bewußt benutzt hat. Ich weiß, daß auch
andere Schauspieler ihre Sprache melodisie-
ren, da sie das irgendwie doch schon tun
müssen, ob sie wollen oder nicht. Meine Lehre
sagt aber, daß ihr Tonfall von der Materie,
vom Stück, vom Inhalt, vom Satz und Sinn
gelenkt wird. Meinen Tonfall regiert nur der
Rhythmus. Ich habe in den letzten Wochen
vielfache Versuche gemacht, einigen Schau-
spielerinnen das schematische, ewig gleiche,
das immer nämliche (nämlich kommt näm-
lich von dem Wort Name) ihres Tonfalls, der
am Wort und am Sinn hängt, abzugewöhnen.
Es war vergeblich gewesen. Zwei Welten
standen sich sozusagen vis-ä-vis. Ich hatte
auch, um ein Geständnis abzulegen, in den
letzten Wochen unliebsame Gelegenheiten,
im Radio einige Herren und Damen ihren
ewig gleichen (nämlichen) Tonfall verbreiten
zu hören. „Meine Herrschaften“, rief ich,
„Sie sprechen ja alle Zeilen gleich. Sie geben
ja allen Gedichten den nämlichen Tonfall. Es
ist eine öffentliche Plage!“ Sie hörten mich
nicht und ich dachte, wenn man die Polizei
gegen diesen Tonfall zu Hilfe rufen könnte.
Man müßte eine Razzia auf diesen Tonfall
veranstalten. Dieser Tonfall, der ein öffent-
licher Skandal ist, müßte endlich einmal poli-
zeilich ausgehoben werden, wie eine Verbre-
cherbande. Man muß eine Razzia auf ihn
machen. Ja, auf ihn, auf ihn. Auf den
Tonfall. Warum aber, Gott im Himmel, träume
ich „für den Tonfall?“ Ich weiß es nicht. Ich
weiß es noch nicht. Es wird schon seinen
Grund gehabt haben. Razzia — auf. Viel-
leicht störte mich Musikalischen die Häufung
der Vokale. Razzia — für — ah, das klingt
phonetisch schon besser. Und nun zeigt sich,
daß mein Tonfall richtig war: flehend wie ein
Bettelmönch bat ich um Razzia, wie man sagt:
Gnade, oh Herr, Gnade für meine unschuldige
Tochter. Ich flehte um Razzia als um das ein-
zige Heilmittel gegen den ewig nämlichen
konventionellen Tonfall, um das einzige Heil-
mittel für, ja für den Tonfall. Ich be-
schäme Freud. „Razzia für den nämlichen
Tonfall“. Der Tonfall kommt von den Ster-
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