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Zeitschrift für christliche Kunst — 9.1896

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Schroers, Heinrich: Die kirchlichen Baustile im Lichte der allgemeinen Kulturentwickelung, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3831#0149

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1896. - ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.

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man in fruchtbarer Weise anknüpfen könnte.
Ihre Ausbildung gehört dem früheren Mittel-
alter an, jener Zeit, in der die christlich-nor-
dische Kultur sich erst mühsam aus der antiken
Tradition und dem germanischen Volksgeiste
herausarbeitete. Des voll entwickelten mittel-
alterlichen Wesens in Kirche und Welt erfreute
sich erst die Periode seit dem XIII. Jahrh.
Hier und nicht dort liegen manche Wurzeln
von Verfassung und Recht, von Theologie und
Philosophie der heutigen Kirche. Die romanische
Kunst ist auf der einen Seite von antiken
Elementen durchzogen, die uns fremd geworden
sind, und trägt auf der andern Seite einen klöster-
lichen Charakter, während wir Volkskirchen
brauchen. Deshalb haben ihre neuesten Nach-
ahmer auch ganz spezifische Eigenthümlichkeiten,
wie die Doppelchörigkeit, die spärlichen Licht-
öffnungen, die grofsen Choranlagen, die Krypten
stillschweigend preisgegeben und bauen mächtige
Westfassenden mit schlanken und hochragenden,
aber dem romanischen Geiste widerstrebenden
Thürmen. Die spätesten, schon von der kom-
menden Gothik beeinflufsten Bauten dienen
zum Muster, und mit gothischer Freiheit pflegen
namentlich auch die Raumvertheilung und die
Höhenentwickelung getroffen zu sein. Es sind
nicht selten gothische Gedanken, die nur in
romanischer Formensprache ausgedrückt sind.
Eben darin liegt unbeabsichtigt das Zugeständ-
nifs, dafs der Fortschritt der kirchlichen Bau-
kunst nur durch die Gothik hindurchgehen kann.
Die Gothik ist uns schon zeitlich viel näher
gerückt und bietet darum eher das Fundament
dar, auf dem sich fortbauen läfst. Sie ist wie
das letzte so auch, nach dem Gesetze alles ge-
schichtlichen Werdens, das höchste und reinste
Erzeugnifs des mittelalterlichen Könnens, zu
dem die romanische Weise nur die Vorstufe
bildet. Noch bedeutsamer ist der Umstand,
dafs das endende XII. und das XIII. Jahrh.,
deren innerstes Denken und Trachten in der
gothischen Architektur verkörpert ist, ent-
wickelungsgeschichtlich genommen, eine über-
raschende Aehnlichkeit mit der Gegenwart dar-
bieten. Der damalige und heutige Umschwung
im volkswirtschaftlichen und sozialen Leben
verläuft in derselben Richtung, nur dafs er sich
jetzt auf der nächst höheren Stufe der Ent-
wickelung bewegt. Damals entstand das selbst-
ständige Handwerk und vernichtete die alte Hof-
industrie; heute herrscht der Fabrikbetrieb und

untergräbt die freie Handarbeit. Damals reckte
sich der dritte Stand, das Bürgerthum, unter
schweren Erschütterungen empor; heute ist es
der vierte Stand, die Arbeitermasse, die nach
Macht ringt. Damals schwollen rasch und
mächtig die Städte an und heute ist es ebenso
— eine Erscheinung, die in der Zwischenzeit
nirgends sich zeigt, vielmehr hat erst unsere Zeit
die Ringmauern gesprengt, die das XIII. Jahrh.
gezogen hatte. Und wie damals ein starker
demokratischer Zug durch die Gesellschaft ging,
so auch jetzt. Das demokratische Wesen jener
Zeit hat der Gothik, dieser bürgerlichen und,
im Gegensatze zur romanischen Epoche, von
Laienhänden geübten Kunst, nicht wenig von
dem Seinigen eingeflöfst und dadurch den kirch-
lichen Bauten den Stempel des Volkstümlichen
aufgedrückt. In gleicher Weise mufs gegen-
wärtig die Kirche jedes Mittel und nicht zu-
letzt auch die Kunst benutzen, um tief und
weit in das Volk hinein ihren Einflufs zu er-
strecken. Endlich stand die damalige Zeit wie
die augenblickliche unter der Zaubermacht einer
neuen Wissenschaft, die bestrickend und um-
gestaltend alles in ihren Bannkreis zog. Wir haben
den wissenschaftlichen Heros des XIII. Jahrh.
wieder auf den Leuchter erhoben und bemühen
uns, das kirchliche Denken wieder mit dem
Geiste seiner Schule zu erfüllen. Kirchliche
Wissenschaft und kirchliche Kunst sind aber
Zwillingskinder einer Mutter und lassen sich
nicht trennen. Wer die geschriebene Summa
des Aquinaten für unsere Zeit als mafsgebend
hinstellt, wird die steinerne Summa der gothi-
schen Baukunst für eben dieselbe Zeit nicht
unpassend finden können.

Die Gothik hat ihre Blüthe und ihren Ver-
fall erlebt, und ihre späteste Gestalt hat das
letztere Merkmal unverkennbar an sich. Diese
zu erneuern, hiefse unserem Kunstleben mit
der Geburt den Todeskeim einpflanzen. Auch
die Hochgothik, die im wesentlichen feierlicher
Kathedralstil ist und zuviel der speziell mittel-
alterlich vollendeten Eigenart an sich hat, will
weder zu unserem bescheidenen Zwecke, der
schlichtere Nutzbauten verlangt, noch zu der
werdenden Kultur unserer ringenden Zeit sich
recht fügen. Dagegen dürfte die ruhige und
ernste Frühgothik sich empfehlen. Sie enthält
alle konstruktiven Vorzüge des Systems in
ganzer Reinheit und nicht eingeengt durch Ge-
setze der blofsen Ornamentik. Sie ist beweg-
 
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